Wozu brauchen wir NS-Gedenkstätten?

Und wieso ist diese Frage nicht verkehrt?
06/2017Gedenkstättenrundbrief 186, S. 31-33
Christian Angerer

Ein Nachbarschaftstreffen. Wir sind uns im Haus gelegentlich begegnet, aber wir kennen uns noch nicht. Nun sitzen wir in kleiner Runde beisammen. Welchen Beruf hast du? Wo arbeitest du? Auch ich komme an die Reihe. Ich bin Lehrer, seit einigen Jahren arbeite ich in der Pädagogik an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Wir entwickeln das Konzept für die Rundgänge und bilden die Vermittler und Vermittlerinnen aus. Wie oft habe ich mich schon mit diesen Kurzformeln beschrieben, und ich höre die Reaktion bereits im Vorhinein: interessant, wichtige Arbeit. Doch diesmal trifft das Echo nicht ein. Der junge Mann, mit dem ich spreche, sieht mich an und stellt mir eine Frage, mit der ich nicht gerechnet habe, die mich aus dem behaglichen Gleichgewicht bringt: Wozu brauchen wir solche Gedenkstätten eigentlich? Bei mir schrillen die Alarmglocken: Rechtsextremismus! Revisionismus! Holocaustleugnung! Mit welchen Hintergedanken stellt er mir eine solche Frage? Soll ich auf die Provokation reagieren? Mein Blick auf den jungen Mann zeigt mir jedoch etwas anderes. Ich sehe weit offene, neugierige Augen, kein herausforderndes Grinsen. Seine Stimme ist ohne polemischen Unterton. Er hat einfach eine ehrliche Frage gestellt und wartet wissbegierig auf meine Antwort.

Ruth Klüger fällt mir ein. In ihrer Autobiografie weiter leben. Eine Jugend erzählt sie von ihren Beobachtungen zur Rolle der Gedenkstätten. Sie stellt dieselbe Frage: »Bewahrung der Stätten. Wozu nur?«[1] Ihre Antworten fallen ernüchternd aus: Die Gedenkstätten gäben nichts von dem wieder, was diese Orte einst als KZ bedeutet haben. Nichts sei weiter von der Konstellation Gefängnis und Häftling entfernt als die Konstellation Gedenkstätte und Besucher. Die Menschen kämen in der Regel mit Touristenneugier und Sensationslust, und die Gedenkstätten würden ihnen zu sentimentaler Selbstgerechtigkeit Anlass geben: »Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als ein besserer Mensch vorkommen.«[2] Henryk M. Broder, enfant terrible der deutschen Erinnerungskultur, spitzt diese Sichtweise zu, wenn er Gedenkstätten als »Disneyland des Todes« und Auschwitz als »Wellness-Oase für Vergangenheitsbewältigung« bezeichnet, wo es in Wahrheit nicht um die Ehrung der Opfer, sondern um Selbstbeweihräucherung gehe – am besten wäre es, so Broder, die konservierten Baracken abzureißen.[3] In ihrer angriffslustigsten Version mündet die Kritik an einer heuchlerischen Gedenkkultur in die Forderung, die NS-Gedenkstätten – bei Erhaltung der Friedhöfe – abzuschaffen. Wozu Gedenkstätten? Zur »Selbstbespiegelung der Gefühle«[4], so ließe sich mit Ruth Klüger antworten.

Aber das hat mein junger Nachbar nicht gemeint. Was er seiner Frage hinzufügt, läuft auf eine andere Form von Psychohygiene hinaus als auf diejenige, die Ruth Klüger bei ergriffenen Gedenkstättenbesuchern diagnostiziert. Er sagt, der Nationalsozialismus und seine Verbrechen seien jetzt etwa siebzig Jahre her, die meisten Menschen, die diese Zeit erlebt haben, seien tot. Warum das Schreckliche von damals heute ständig quälend vergegenwärtigen? Wenn er persönlich etwas Verletzendes erlebe, versuche er es in der Erinnerung einzukapseln, damit es seine Lebenskraft nicht zerstören kann, damit er gesund bleibt. Das ist therapeutisch gedacht, und es leuchtet mir, was die Bewältigung persönlicher Krisen betrifft, gleich ein. Ich mache es genau so, stelle ich nach einer blitzartigen Selbstprüfung fest. Deshalb wehre ich mich gegen die spöttische Stimme in mir, die mir zuflüstert: also Vergangenheitsbewältigung à la Krankenpfleger (das ist der Beruf meines Gegenübers). Nein, ich nehme den Gedanken an, er hat etwas für sich.

Der Vergleich mit der Psychotherapie hinkt natürlich, aber er ist, auch auf Kollektive und Historie bezogen, nicht ganz verfehlt. Zunächst wurde in Deutschland und Österreich über die Schuld an den NS-Verbrechen und in Israel über die Erfahrung der Vernichtung nicht geredet – vielleicht die Voraussetzung dafür, dass persönlich und kollektiv Neues aufgebaut wurde. Doch das Verdrängte blieb als zerstörerische, weil unbearbeitete Substanz in den Familien und in der Gesellschaft wirksam. Es wühlte sich an die Oberfläche, zeigte seine ungeheure Dimension, wurde Frage, Thema, Streitpunkt, Ärgernis, Bedrohung, Erzählung, Geständnis, Bekenntnis, Aufgabe, Politikum … Nun wird es besprochen, durchdacht und noch einmal durchlebt. Ist es schon an der Zeit, die Erinnerung daran einzukapseln, damit man sie stets abrufen und nützen kann, wenn man will, ohne ihrem schleichenden Gift ausgesetzt zu sein?

Es scheint mir nicht falsch, dass sich Menschen um ihre Gesundheit kümmern, Individuen ebenso wie Gesellschaften. Mir gefällt das Zutrauen zum Vitalen und zur Zukunft. Dana Giesecke und Harald Welzer plädieren in ihrem Buch Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur dafür, dass sich der lernende Umgang mit den NS-Verbrechen »nicht um eine negative Geschichte zentrieren soll, sondern um die Möglichkeiten gelingenden und glücklichen Zusammenlebens«.[5] Junge Menschen sollen zur Partizipation in einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft befähigt werden. Mit Blick auf diese Zukunft sei von historischen Erfahrungen mit den humanen und inhumanen Potenzialen menschlicher Gesellschaften Gebrauch zu machen. Der Nationalsozialismus sei eines dieser historischen Beispiele, wenn auch ein besonders drastisches. Es veranschauliche, wie in einem sozialen Prozess eine mörderische Ausgrenzungsgesellschaft entsteht, an der die meisten aktiv mitwirken, während sie sich dennoch moralisch integer fühlen. Und es zeige, wie manche Menschen Handlungsspielräume wahrnehmen, um Ausgestoßenen zu helfen. Folgerichtig fordern Giesecke und Welzer einen neuen Typus von Lernort: statt einer auf die Vergangenheit fixierten NS-Gedenkstätte, die sich der Erinnerung an den Schrecken verschreibt, ein an der Zukunft orientiertes »Haus der menschlichen Möglichkeiten«[6], das positive Perspektiven vor dem Hintergrund historischen Lernens eröffnet.

NS-Geschichte ausstellungspädagogisch gezähmt und verpackt zum Lernen für die Zukunft? Ein verlockender Gedanke, doch ich zweifle, ob sich diese Geschichte dem rationalen Zugriff fügt. Jedenfalls tut sie es nicht an den Gedenkstätten, die Überreste der Mordstätten bewahren. Die Menschen besuchen diese Orte, weil sie sich vom Schrecklichsten eine Vorstellung machen wollen. Es sind emotionale Orte, an denen sich unterschiedlichste Gefühle regen. Es bedarf keiner Pädagogik, um sie zu erzeugen. Sie sind da, pädagogisch erwünschte wie unerwünschte: Entsetzen, Angst, Schuld, Mitleid, Trauer, Empörung, Wut, Faszination, Aggression, Sensationsgier. Dass solche Gefühle ausgelebt werden und Ausdruck finden können, gerade darin sieht der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer eine Funktion von Gedenkstätten.[7] Mauthausen, Gusen, Ebensee – das sind offene Wunden. Können sie jemals verheilen, angesichts dessen, was dort geschah? Die breite mediale Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die Besucherzahlen der Gedenkstätten belegen die erregende Präsenz der Geschichte.

Also zurück vom »Haus der menschlichen Möglichkeiten« zu den Gedenkstätten, zu den historischen Orten, die uns aufwühlen und etwas zu sagen haben. Damit nähere ich mich der Antwort, die ich meinem Nachbarn auf seine Frage gegeben habe. Wozu brauchen wir solche Gedenkstätten eigentlich? Meine Antwort war nicht wohl überlegt, kaum umsichtig. Klüger, Welzer, Hochgatterer – sie sind mir erst später eingefallen. Ich habe ihm gesagt, was mir sofort in den Sinn kam, weil es mich am meisten bedrängt. Es war gewiss nicht die beste Antwort. Aber ich wollte anscheinend einen wunden Punkt treffen, der in der Gedenkkultur noch nicht zum Selbstverständlichen gehört: Indem die NS-Gedenkstätten da sind, mitten in unserer ländlichen, städtischen, touristischen Lebenswelt, führen sie uns vor Augen, dass die Verbrechen in die Gesellschaft eingebettet waren. Zwischen den Wachmannschaften der Lager und dem gesellschaftlichen Umfeld entwickelten sich enge wirtschaftliche, kulturelle und persönliche Beziehungen, es wurde Handel getrieben, Fußball gespielt und geheiratet. Die Verbrechen waren offensichtlich, doch alle beschlossen – wie Komplizen – über das offene Geheimnis zu schweigen. Man gewöhnte sich daran in einer gemeinsam geschaffenen »Normalität«. »L’univers concentrationnaire«[8], die KZ-Welt, war kein eigenes Universum, keine verrückte Parallelwelt, wie es den Häftlingen aus ihrer Perspektive erscheinen mochte, sondern integraler Bestandteil der Gesellschaft. Die NS-Gedenkstätten mitten unter uns zeigen uns: Wir sind immer mit dabei. Aber die Rolle der unschuldigen Zuschauer bleibt uns verwehrt. Wir treffen Entscheidungen. Wir sehen die Handlungsspielräume oder wir nehmen sie nicht wahr. Gedenkstätten sind Orte, die solche Fragen aufwerfen. Diese Orte sollen nicht durch Schrecken stumm machen, sondern zum Austausch über Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken ermutigen.

Seit unserem Nachbarschaftstreffen sind einige Monate vergangen. Manchmal begegne ich meinem jungen Nachbarn im Haus, wir grüßen uns. Ich muss ihm einmal sagen, dass ich seine Frage gut finde.

 

Dr. Christian Angerer, Germanist und Historiker, Hochschullehrer, Mitarbeiter von erinnern.at und an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.

 

[1] Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 70.

[2] Ebenda, S. 76.

[3] http://bit.ly/2suBtJB [zuletzt abgerufen am 11. Mai 2017]

[4] Klüger: weiter leben, S. 76.

[5] Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012, S. 25.

[6] Ebenda, S. 117.

[7] Vgl. Paulus Hochgatterer: Helene, Mio und der Tod. In: P.H.: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit. Reden, Aufsätze, Vorlesungen. Wien 2012, S. 196–204.

[8] David Rousset: L’Univers concentrationnaire. Paris 1946.