80 Jahre nach der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora
Neue Informations- und Vermittlungsangebote
Mehrere Hundert Menschen nahmen im April 2025 an den Gedenk- und Informationsveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora teil. Der thematische Schwerpunkt widmete sich dem Kriegsende und der Befreiung der Überlebenden vor 80 Jahren, damit verbunden auch dem biografischen Blick auf diejenigen Häftlinge, die noch kurz vor der Befreiung oder auch noch danach an den Folgen ihrer zumeist jahrelangen KZ-Haft verstorben waren.
Zu den Ehrengästen zählte der inzwischen 100-jährige Albrecht Weinberg, der neben dem KZ Mittelbau-Dora auch die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen sowie mehrere Räumungstransporte und Todesmärsche überlebt hatte. Außerdem waren zahlreiche Familienangehörige von Überlebenden und Ermordeten des KZ Mittelbau-Dora sowie einige Nachkommen der US-amerikanischen Soldaten vom April 1945 angereist, die Nordhausen im April 1945 erreicht und das KZ Mittelbau-Dora befreit haben. Viele der nächsten Generationen nutzten den 80. Jahrestag für einen erstmaligen Besuch des historischen Ortes, an den ihre Vorfahren deportiert worden waren: einen Ort, den sie bislang häufig nur aus familieninternen Überlieferungen – aus Erzählungen oder Fotografien – kannten.
Wie auch nach dem Abschied von der Zeitzeugenschaft der sogenannten »Erlebnisgeneration« weiterhin biografische Zugänge zur Geschichte vermittelt und die Tatorte nationalsozialistischer Verbrechen in der historisch-politischen Bildungsarbeit präsentiert werden können, ist bereits seit vielen Jahren ein Thema, dem sich die Mitarbeitenden der Gedenkstätten aufmerksam widmen. Der Jahrestag bot Anlass, um dem vor Ort und dem digital teilnehmenden Publikum zwei neue Informations- und Vermittlungsangebote zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora vorzustellen: ein neugestaltetes didaktisches Informationssystem für die historische Stollenanlage und ein digitales Gedenkbuch, das sich den Häftlingen des KZ-Komplexes Mittelbau widmet, die im April 1945 auf Räumungstransporten und Todesmärschen in die Altmark getrieben und beim Massaker von Gardelegen ermordet wurden.
Ein neues Erschließungssystem für die historische Stollenanlage
Die historische Stollenanlage im Kohnstein, einem Berg wenige Kilometer nordwestlich von Nordhausen, gehört zu den wichtigsten Zeugnissen für die mörderische Zwangsarbeit, die KZ-Häftlinge für die NS-Rüstungswirtschaft leisten mussten. Ab Mitte der 1930er-Jahre als ein unterirdisches Tanklager gebaut, wurde die Anlage ab August 1943 von KZ-Häftlingen in mörderischer Zwangsarbeit zu einer Produktionsstätte für die Montage der sogenannten V-Waffen ausgebaut. Als Tatort steht sie exemplarisch für die fortgesetzte Radikalisierung der nationalsozialistischen Kriegsführung und für seine realitätsfernen Untertageverlagerungsprojekte in der letzten Kriegsphase. Einige der Querkammern dienten als »Schlafstollen«, in denen mehrere Tausend Häftlinge über Monate hinweg eingepfercht blieben. Heute stehen die insgesamt mehr als 18 Kilometer langen Stollen unter Denkmalschutz. Mit ihrer Geschichte verbindet sich ein Blick auf die europäische Dimension der KZ-Zwangsarbeit: Rund 95 Prozent der Häftlinge, die zwischen August 1943 und April 1945 ins KZ Mittelbau-Dora deportiert worden waren, waren nach Deutschland verschleppte Menschen aus vielen von Deutschland besetzten Ländern: insbesondere Menschen aus Polen, der Sowjetunion und Frankreich.
Ein Teil der Stollenanlage auf der Südseite des Kohnsteins ist für das Besuchspublikum der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora im Rahmen begleiteter Informations- und Bildungsangebote zugänglich. Da die originalen Zugänge in den Jahren 1947/48 gemäß den Potsdamer Vereinbarungen zur Demilitarisierung Deutschlands zugesprengt wurden und die Anlage seitdem nicht mehr betretbar war, wurde zum 50. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora im April 1995 ein eigens für die Besucher:innen der Gedenkstätte errichteter neuer Zugangsstollen feierlich eingeweiht. Er ermöglicht es dem Publikum, wenige Hundert Meter der historischen Stollenanlage über eine Wandelgalerie zu betreten und sicher zu besichtigen. Dabei war der Zustand, wie er bei der Wiederöffnung des Stollens vorgefunden wurde, so wenig wie möglich verändert worden: In den ehemaligen Montagekammern liegen immer noch zerstörte Werkseinrichtungen, Reste aus der Produktion und heruntergefallene Gesteinsbrocken durcheinander.
Vier Jahre später, im Frühjahr 1999, folgte eine kleine Dauerausstellung im begehbaren Teil der Anlage. Mehrere Wandtafeln aus feuchtigkeitsrobustem Stahl präsentierten Texte, Zitate und zwei Zeichnungen ehemaliger Häftlinge, die den KZ-Alltag im historischen Stollen thematisierten. Zudem wurden als dreidimensionale Objekte zwei Bauteile einer V2-Rakete ausgestellt, die jedoch nicht durch Objekttexte kommentiert waren. Ebenso zeigte ein dreidimensionales Röhrenmodell an einer Aufhängung im Raum die Form der gesamten Stollenanlage inkl. der nicht zugänglichen Abschnitte und Querkammern. Problematisch an dieser mehr als 20 Jahre lang präsentierten Ausstellung war neben ihrer langen Textlastigkeit zum einen ihre Lage: Die Tafeln und Objekte befanden sich nur an einem Ort in der Stollenanlage, erstreckten sich jedoch nicht über den gesamten zugänglichen Bereich. Damit verfehlten sie die Zielsetzung, die Stollenanlage als historischen Ort im Rahmen der begleiteten Bildungsangebote zugänglich zu machen. Zum anderen widersprach die Form dieser Präsentation, die auf eine »stille Betrachtung« der Wandtafeln und Objekte setzte, den Formaten der tatsächlich dialogischen Bildungsarbeit vor Ort: Da die Stollenanlage nur im Rahmen begleiteter Gruppen betreten werden kann, konnten sich die Besucher:innen die Inhalte dieser Ausstellung oftmals nur noch nach dem Ende der Bildungsformate im Stollen kurz individuell ansehen, nicht jedoch als dialogunterstützende Elemente.
An dieser Schwachstelle setzte das neue didaktische Informationssystem an, dessen Umsetzung als Projekt durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien und den Freistaat Thüringen zwischen 2021 und 2024 gefördert wurde. An ausgewählten Standorten außen im Eingangsbereich sowie im Inneren des begehbaren Teils der Stollenanlage wurden mehrsprachige Stelen, sogenannte Ankerpunkte, errichtet.
Sie benennen diese Orte in kurzen, knappen Worten und vermitteln dem Besuchspublikum eine grobe räumliche und thematische Orientierung. Hinzu kommen als sogenannte Schlaglichter robuste Kacheln und Aufsteller, die als Trägerelemente Inhalte und Zeichnungen an ausgewählten Orten in der Stollenanlage zeigen, mit denen sie in thematischer Beziehung stehen. Sie verstehen sich nicht als Ausstellungselemente, sondern bilden ein unterstützendes Informations- und Erschließungssystem zur räumlichen Veranschaulichung von Text- oder Bildquellenbezügen, das für den Dialog mit Besucher:innen im Rahmen der begleiteten Vermittlungsarbeit konzipiert wurde.
Um die Stollenanlage als zentrales Großexponat der Gedenkstätte nicht zu überformen, wählte die Bürogemeinschaft GfG/Gruppe für Gestaltung GmbH und oblik identity design GbR in ihrem Entwurf eine dezent wahrnehmbare Form- und Gestaltungssprache. Das neue System beschränkt sich insgesamt auf wenige, nach didaktischen Fragestellungen und im Einklang mit dem Ablauf von Bildungsformaten gezielt ausgewählte Präsentationsorte im gesamten begehbaren Bereich der Anlage. Die
Einbauten ermöglichen dem Publikum eine thematische und topografische Orientierung und sind zugleich robust genug gebaut, um den raumklimatischen Bedingungen unter Tage – den ganzjährig kühlen Temperaturen und der hohen Luftfeuchtigkeit – standzuhalten. Weiterhin bettet die didaktische Konzeption den Besuch der Stollenanlage in das Gesamtkonzept für die Bildungsarbeit in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ein, um auf ihre Bedeutung im Kontext der europäischen sowie der lokalen Dimension der KZ-Zwangsarbeit hinzuweisen und den bisweilen immer noch verbreiteten technischen Mythen rund um die Untertageverlagerung sowie insbesondere zu Rüstungsgütern entgegenzuwirken.
Öffentlich vorgestellt wurde die didaktisch neu erschlossene Stollenanlage bereits zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora im April 2024. Der gestalterischen und baulichen Vollendung des Projekts schloss sich seitdem eine einjährige Nutzungsphase in der praktischen Vermittlungsarbeit an: Die gesammelten Erfahrungen in der Praxis mit Schulklassen und Erwachsenengruppen fallen sehr positiv aus. Und auch die zum 80. Jahrestag angereisten Familienangehörigen ehemaliger KZ-Häftlinge nahmen das neugestaltete Erschließungssystem erfreut und dankbar an.
Vom Harz in die Altmark: ein digitales Gedenkbuch zu den Räumungstransporten und Todesmärschen bis zum Massaker von Gardelegen
Thematischer Schwerpunkt des 80. Jahrestages der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora war der Blick auf die Situation der Befreiung: auf das Handeln der alliierten Befreier, der befreiten KZ-Häftlinge und der lokalen Zivilbevölkerung. Zugleich galt das Gedenken auch den zahlreichen Häftlingen des KZ-Komplexes Mittelbau, die kurz vor dem Eintreffen der US-amerikanischen Truppen auf mörderische Räumungstransporte und Todesmärsche getrieben und bei Endphaseverbrechen ermordet wurden. Denn die meisten Häftlinge des KZ-Komplexes Mittelbau erlebten ihre Befreiung – wenn überhaupt – an anderen Orten. Insgesamt mehrere Tausend Häftlinge wurden auf unterschiedlichen Wegen vom Harz bis in die Altmark verschleppt. Allein mehr als 1.000 von ihnen wurden beim Massaker in der Isenschnibber Feldscheune am 13. und 14. April 1945 in Gardelegen ermordet, mehrere Hundert weitere Häftlinge entlang der Todesmarschwege und in den Dörfern der Umgebung.
Ihnen und auch den rund 400 Häftlingen aus dem Neuengammer KZ-Außenlager Hannover-Stöcken, die ebenfalls in die Altmark und nach Gardelegen getrieben wurden, widmet sich ein neues digitales Gedenkbuch, das die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen in Kooperation mit den KZ-Gedenkstätten Mittelbau-Dora und Neuengamme in Vorbereitung auf den 80. Jahrestag erarbeitete und nun im April 2025 als Webseite freischaltete. Als weltweit einsehbare Internet-Datenbank enthält es 268 bekannte Namen und Biografien der insgesamt 1.023 auf dem Ehrenfriedhof in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen beigesetzten KZ-Häftlinge. Die Recherche ist nach mehreren Suchkriterien möglich: Neben einzelnen Personen und Namen erlaubt die Webseite auch gruppenbezogene Suchanfragen, etwa nach Herkunftsorten und -ländern, Altersgruppen, Berufen und Haftorten.
Das neue digitale Gedenkbuch ergänzt das erste vor Ort auf dem Ehrenfriedhof physisch aus Metall errichtete Gedenkbuch, das die Hansestadt Gardelegen und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge dort als tabellarisches Nachschlagewerk im April 2011 errichtet hatten. Ein QR-Code am physischen Gedenkbuch auf dem Ehrenfriedhof und eine zusätzliche Medienstation in der Dauerausstellung im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte verbinden das neue digitale Informationsangebot mit den bisherigen physischen Informations- und Erinnerungsorten. Neu geschaffen wird nun die Möglichkeit, auf dem Gelände des Ehrenfriedhofes konkret nach bestimmten Grablagen zu suchen: Teil der Online-Erweiterung des Gedenkbuches ist ein fortlaufend aktualisierter Grabbelegungsplan, der einen öffentlichen Gesamtüberblick zu den namentlich ermittelten Grablagen sowie zu den Einzelgräbern für unbekannte KZ-Häftlinge bietet.
Die digitale Erweiterung basiert nun auf einem aktualisierten biografischen Forschungsstand. Zudem ist sie grafisch gestaltet und animiert: Namen und biografische Informationen zu einzelnen Personen werden mit Text- und Bildquellen verknüpft, Deportationswege auf Übersichtskarten veranschaulicht, Verhältnisse zwischen verschiedenen Alters- oder Herkunftsgruppen in Diagrammen abgebildet. Außerdem enthält das digitale Gedenkbuch nicht nur Informationen zu Ermordeten, sondern auch zu Überlebenden: Ausgewählte Biografien, die besonders anschaulich und quellendicht überliefert sind, werden exemplarisch vorgestellt.
Eine zentrale Aufgabe bleibt die fortlaufende Pflege und Aktualisierung des neuen digitalen Gedenkbuches. Sie erfolgt fachlich professionell direkt vor Ort in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. Zugleich ist sie partizipativ angelegt: Die interessierte Öffentlichkeit wird auf der neuen Webseite um sachdienliche Unterstützung und Mitteilung ergänzender biografischer Informationen an die Gedenkstätte gebeten, die dann in die Datenbank eingepflegt werden. Insgesamt bleibt zu wünschen, dass dieses neue Informations- und Rechercheangebot viele Interessierte bei ihren Forschungen und bei der biografiebezogenen Vermittlungsarbeit unterstützt und insbesondere Familienangehörigen ehemaliger KZ-Häftlinge die Suche nach Informationen zu ihren oftmals bis heute Vermissten erleichtert.
Andreas Froese ist Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Zuvor war er Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen.