»Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte«. Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin., Judith Hahn (Hg.),

Buchbesprechung
06/2021Gedenkstättenrundbrief 202, S. 63-66
Dr. Astrid Ley

Katalog zur Ausstellung[1]

Drei Jahre nach der Eröffnung der Ausstellung im Erdgeschoss der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin-Mitte hat die Kuratorin Judith Hahn im vergangenen Jahr einen Katalog vorgelegt. Das Buch erschien in einer deutschen und einer englischen Fassung und stellt eine Eins-zu-eins-Dokumentation der Ausstellung dar, ergänzt um drei einführende Kurzbeiträge aus den Reihen der damaligen Projektgruppe, in denen Zugänge und Kontexte der Ausstellung erläutert werden.

Wie im Einführungsbeitrag »Historische Annäherungen« von Thomas Beddies und Judith Hahn (S. 11–18) hervorgehoben wird, befindet sich die Ausstellung an einem gleichermaßen historischen und gegenwärtigen Ort medizinischen Agierens, denn die 1904 eröffnete Klinik auf dem Charité-Gelände dient bis heute der wissenschaftlichen Erforschung und Behandlung psychiatrischer und neurologischer Krankheiten. Verständlicherweise richtet sich die Ausstellung daher besonders an Studierende, Lehrende und Mitarbeitende auf dem Campus Charité Mitte, was auch an den Zugängen zum Thema deutlich wird. Ein Weg führt über die Erinnerungskultur, und zwar konkret über Denkmäler und Straßennamen, mit denen man verdiente Wissenschaftler seit etwa 1900 auf den Charité-Gelände ehrte und von denen manche später aus politischen Gründen wieder entfernt wurden. Vier Büsten jüdischer Mediziner des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fielen in der NS-Zeit dem »antisemitischen Bildersturm« zum Opfer, dessen Folgen im Eingangsbereich der Ausstellung an dem leeren Denkmalsockel für den Psychiater und Neurologen Carl Westphal sichtbar sind. Heute steht die Charité vor der Frage, wie mit Denkmälern und Erinnerungszeichen für Wissenschaftler umzugehen ist, die in NS-Medizinverbrechen eingebunden waren und daher Gegenstand auch dieser Ausstellung sind, wie der Psychiater Karl Bonhoeffer und der Chirurg Ferdinand Sauerbruch.

Alternativ zur erinnerungskulturellen Perspektive wird ein historischer Zugang angeboten, der seinen Ausgang vom Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 gegen 23 Mediziner und Spitzenvertreter des NS-Gesundheitswesens nimmt. Bei den Angeklagten handelte es sich weit überwiegend um wissenschaftlich anerkannte und erfahrene Hochschullehrer, sieben Angeklagte – und damit fast ein Drittel der Beschuldigten – waren Professoren oder Privatdozenten an der Berliner Medizinischen Fakultät. Wie konnte es zu den verbrecherischen Menschenversuchen und Euthanasie-Morden kommen? Der Nürnberger Ärzteprozess hat Antworten auf solche Fragen gesucht und markiert damit den Beginn der Auseinandersetzung mit der Medizin im Nationalsozialismus. In Ausstellung und Katalog wird das Ereignis daher als Objekt historischer Reflexion und als Ausgangspunkt für Überlegungen über die gegenwärtige Medizin und die ihr innewohnenden Gefahren genutzt. Auf den Stellenwert des Nürnberger Ärzteprozesses im Ausstellungsnarrativ weist das titelgebende Zitat des Prozess-Sachverständigen Leo Alexander »Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte« hin.

Ein dritter Zugang führt schließlich über das Medium der Kunst. Der im Außenbereich des Charité-Geländes gelegene Erinnerungsweg »REMEMBER« stellt ein Angebot vor allem für Passanten und die interessierte Öffentlichkeit dar. Im Rahmen mehrerer Stationen setzt sich das interaktive Denkmal der Künstlergruppe um Sharon Paz mit spezifischen Aspekten der Charité-Geschichte auseinander und bietet dabei Anknüpfungspunkte zur Ausstellung an, wie Judith Hahn in einem eigenen Kurzbeitrag über das Kunstwerk ausführt (S. 25).

Besondere Beachtung verdient der zwar knappe, aber originelle Einführungsbeitrag von Heinz-Peter Schmiedebach zu den Kontexten der in Buch und Ausstellung thematisierten Grenzüberschreitungen und Verbrechen von Medizinern in der NS-Zeit (S. 19–23). Schmiedebach, der bis 2017 die erste Professur für Medical Humanities in Deutschland innehatte, zeigt darin verschiedene »Spannungsfelder und unauflösbare Widersprüche (Aporien)« auf, aus denen die im Ausstellungs-Untertitel genannten »Gefährdungen der modernen Medizin« erwachsen können. Bei diesen Spannungsfeldern handelt es sich teils um Risiken und Gegensätze, die der »modernen« naturwissenschaftlichen Medizin und ihrer Forschungspraxis immanent sind, teils um strukturelle Widersprüche, die aus dem modernen Wissenschaftssystem und seinem komplexen Wechselverhältnis zur Politik resultieren. Die Art, wie in der NS-Zeit mit ihnen umgegangen wurde, trug dazu bei, dass sich die Heilkunde zu einer ausmerzenden Disziplin entwickeln konnte. Die Spannungsfelder stellen aber auch heute für Ärzte eine Herausforderung dar, wie Schmiedebach etwa am grundsätzlichen Konnex zwischen Heilen und Vernichten illustriert: In der aktiven Therapie ist Heilung häufig mit der Vernichtung erkranken Körpergewebes verbunden, zum Beispiel bei lebensrettenden Amputationen oder in der Krebstherapie. Ärzte erläutern solche Behandlungsansätze seit je her gern mithilfe von Kampfes- und Kriegsmetaphern, was dazu führt, dass »die Vernichtung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen« unhinterfragt als »habituelle Selbstverständlichkeit« im medizinischen Arsenal verankert bleibt (S. 21).

Weitere Beispiele aus Schmiedebachs Beitrag sind Allokationsprobleme aufgrund von Ressourcenknappheit, wie sie etwa jüngst in der Pandemie deutlich wurden, oder der unauflösbare Widerspruch zwischen Distanz und Empathie im ärztlichen Patientenkontakt – also zwischen der für die medizinische Erkenntnisgenerierung notwendigen professionellen Objektivität und der für die Heilung förderlichen menschlichen Zugewandtheit des Arztes. Die im Beitrag freilich nur schlaglichthaft skizzierten Spannungsfelder und Aporien lesen sich wie ein Katalog medizinethischer Grundfragen und verweisen nachdrücklich auf das Potenzial, welches das Thema »NS-Medizin« für die medizinethische Ausbildung bietet.

Der die Ausstellung dokumentierende Hauptteil des Bandes (S. 26–127) nähert sich den medizinischen Grenzüberschreitungen und Verbrechen von Charité-Medizinern ab 1933 in einem ersten Erzählstrang von der Seite der Betroffenen und Opfer an, denen man mithilfe von teils sehr berührenden Ego-Dokumenten eine Stimme zu gegeben versucht. Für einige Gruppen, etwa die Opfer der sogenannten Kindereuthanasie, fehlen jedoch solche Selbstzeugnisse, so dass Leerstellen bleiben. Der Perspektive der Opfer haben die Autoren – in einem zweiten, nach Fachdisziplinen gegliederten Erzählstrang – das Handeln und die wissenschaftlichen Kontexte der verantwortlichen »Akteure« gegenübergestellt; einige dieser Mediziner, wie der Chirurg Karl Gebhardt, der Jugendpsychiater Hans Heinze oder der Pädiater Georg Bessau, hätten dabei aber durchaus deutlicher als »Täter« bezeichnet werden können.

Neben Betroffenen und Opfern der NS-Medizin wurden in die Betrachtung auch Charité-Angehörige und Studierende einbezogen, die aufgrund antisemitischer und politischer Verfolgung von der Universität ausgeschlossen wurden. Zwischen 1933 und 1938 wurden Hunderte Medizinstudenten und über 160 Ärzte, Mitarbeiter und Forschende nach aus ihren Stellungen entlassen. Was das im Einzelfall für die Betroffenen bedeutete, zeigt die Ausstellung am Beispiel des jüdischen Gerichtsmediziners Paul Fraenckel, der nach langjähriger Lehrtätigkeit an der medizinischen Fakultät 1933 die Venia Legendi verlor und 1935 auch den Herausgeberkreis der von ihm mitedierten Fachzeitschrift verlassen musste. Als eine Polizeiverordnung die in Deutschland lebenden Juden 1941 zum Tragen eines »Judensterns« verpflichtete, nahm sich Fraenckel das Leben. Er konnte, so eine von ihm hinterlassene Notiz, diese weitere Deklassierung nicht mehr hinnehmen: »Das ertrage ich nicht – den gelben Davidsstern auf der Brust! Es ist der gefürchtete Keulenschlag, den ich doch immer noch nicht für möglich halten wollte, obwohl vieles darauf hinwies. Er zerstört die letzte Freiheit der Bewegung.« (S. 38)

Die für die Verdrängung von Wissenschaftlern wie Fraenckel verantwortlichen Akteure und Mechanismen werden im zweiten Erzählstrang mit Blick auf die an der Charité verbliebenen Dozenten und Studenten untersucht. Hier zeigt sich, dass sowohl die Ausschaltung jüdischer Kollegen als auch die Verfolgung spezifischer Fachinteressen in erster Linie über politische Anbiederung und Selbstgleichschaltung erfolgte – um den Preis ideologischer Vereinnahmung und wissenschaftlicher Uniformierung. So stellte Paul Diepgen, Nestor der deutschen Medizingeschichte, sein Institut bereitwillig in den Dienst des NS-Staates, um einen Bedeutungszuwachs für sein junges Fach zu erwirken. »Säuberungsaktionen« der NS-Studentenschaft führten dazu, dass bestimmte Forschungsrichtungen, wie der sexualwissenschaftliche Ansatz Magnus Hirschfelds, aus den Bibliotheken verschwanden.

Die Verfehlungen von Charité-Ärzten lassen die Radikalisierung der Medizin in der NS-Zeit erkennen. Der Bogen spannt sich vom »fragwürdigen« und doppelmoralischen Handeln der Venerologen gegenüber geschlechtskranken Frauen (S. 76) über die »verwerfliche« Nutzung von Leichnamen Hingerichteter ohne deren Einwilligung durch Anatomen (S. 68) und weiter über das als »schwere Verletzung der Menschenwürde« einzustufende Beforschen von Gebeinen gewaltsam Getöteter durch medizinische Anthropologen (S. 62) bis hin zu den später als »Unrecht« geächteten Zwangssterilisationen der Gynäkologen (S. 89) und endet schließlich bei den »Medizinverbrechen« von Chirurgen, Pädiatern und Psychiatern im Zusammenhang mit kriminellen Humanexperimenten und Euthanasie-Morden (S. 90). Bei zwei Themenkomplexen geht der Betrachtungszeitraum deutlich über die NS-Zeit hinaus, nämlich bei der Frage nach Rudolf Virchows »rassen-anthropologischer« Schädel- und Skelettsammlung und bei der Diskriminierung weiblicher Geschlechtskranker in der Medizin. Dadurch wird deutlich, dass viele der Komplexe, wie auch das eugenische Denken oder die Forschung an Leichen unfreiwilliger Körperspender, eine längere Vorgeschichte haben.

Das Ausstellungskonzept überzeugt, nicht zuletzt aufgrund des bereits aus KZ-Gedenkstätten bekannten Ansatzes, NS-Verbrechen auch aus der Perspektive der Opfer darzustellen. An einem Ausstellungsort wie dem Campus Charité Mitte, an dem auch heute medizinische Ausbildung, Behandlung und Forschung stattfindet, stellt die Sicht der von dem ärztlichen Handeln Betroffenen und Patienten eine wichtige Perspektiverweiterung dar. Die in Buch und Ausstellung präsentierten Themenkomplexe sind zwar nicht neu, dennoch bieten die Ausstellungsmacher eine Vielzahl bislang kaum beachteter Details und wenig bekannter Dokumente und Zeugnisse. In der vielschichtigen Darstellung steckt viel strukturierendes Denken und auch einige sprachliche Feinarbeit, wie etwa die als gleichförmige Schlagworte abgefassten Kapitelüberschriften verdeutlichen. Insgesamt ein – vor allem mit Blick auf die Hauptzielgruppe – gelungenes Projekt.

 

Dr. Astrid Ley, ist Medizinhistorikerin und stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.

 

[1]    Judith Hahn (Hg.), »Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte«. Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin. Katalog zur Ausstellung [›The beginnings at first were merely a subtle shift in emphasis in the basic attitude of the physicians‹. The Charité in National Socialism and the Dangers of Modern Medicine. Exhibition Catalogue], Schwabe Verlag, Berlin 2020, 128 S., 14,80 €