Der Ort als historische Quelle

Peenemünde über Ruinen, Bodenfunde und Fotos verstehen
03/2023Gedenkstättenrundbrief 209, S. 41-57
Philipp Aumann

In den Versuchsstellen Peenemünde brachten Heer und Luftwaffe unbemannte Fernwaffen mit neuartigen Antrieben zur Einsatzreife für den Zweiten Weltkrieg. Hunderte Labor- und Bürogebäude, Werkstätten, Prüfstände, Fertigungsanlagen, 80 Kilometer Schienennetz, Straßen, Häfen, Flugplatz, Ver- und Entsorgungseinrichtungen, Siedlungen und Lager machten es möglich, dass an der vormals kaum besiedelten Nordspitze der Insel Usedom gleichzeitig bis zu 12 000 Menschen lebten, arbeiteten und höchst ambitionierte Rüstungsvorhaben realisierten. Doch in Peenemünde wurde nicht nur der Krieg vorbereitet, sondern er kam durch vier westalliierte Luftangriffe auch an den Ort zurück. Nachdem die Wehrmacht Peenemünde zum Kriegsende aufgegeben hatte, besetzte die Sowjetarmee die Anlagen, nutzte sie kurzzeitig weiter, verbrachte Maschinen und ganze Gebäudeteile ins eigene Land und ließ den Großteil der verbliebenen Einrichtungen sprengen. Was noch brauchbar war, wurde zum Neuaufbau zerstörter Orte in der Region verwendet, der Rest verschwand im Grünen.

Das Historisch-Technische Museum Peenemünde zeigt seit Februar 2023 die Ausstellung »Die Ruinen von Peenemünde. Vom Werden und Vergehen einer Rüstungslandschaft«,[1] die den Wert der historischen Landschaft Peenemündes für das Verständnis der Geschichte thematisiert. Blickfang und ordnendes Element sind Bilder des Berliner Fotografen Lorenz Kienzle, der den Zustand der Ruinenlandschaft 2018/19 und 2022 festgehalten hat. Die großformatigen Fotos regen zu Reflexionen an, wie der Mensch die Erde umgestaltet hat und wie überheblich und vergänglich der Anspruch war, mit fortschrittlicher Waffentechnik den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.

Noch wichtiger als dieser ästhetische, persönlich-assoziative Zugang ist die neue wissenschaftliche Perspektive auf den historischen Ort, um die die Ausstellung das Verständnis Peenemündes bereichert. Den abgebildeten Ruinen werden historische Fotos der Anlagen und Objekte gegenübergestellt – sowohl bauliche Relikte wie Betonklötze oder Holzbohlen, als auch Bodenfunde aus der Umgebung dieser Anlagen wie technische Geräte, Werkzeuge, Alltagsgegenstände oder materielle Zeugen des Kriegs. Diese unterschiedlichen Exponattypen stellen das kulturwissenschaftliche und archäologische Herangehen an die Geschichte Peenemündes vor, das die historiografischen Methoden ergänzt. Wie erforschen Archäologen einen Ort der Moderne? Welche Fragen ergeben sich aus einem materiellen Ansatz, und welche Antworten liefert er, die Schrift- und Bildquellen nicht liefern können? Diese Fragen werden im Folgenden zunächst theoretisch-methodologisch und anschließend an einigen Beispielen aus den Peenemünder Versuchsstellen diskutiert.

 

Vom Produkt zur Praxis: Historische Bildwissenschaft und Geografie, Materielle Kultur und Archäologie der Moderne

Beim Verständnis Peenemündes haben über Jahrzehnte hinweg die technischen Innovationen alle sozial- und kulturhistorischen Aspekte überstrahlt. Die wissenschaftlichen und militärischen Protagonisten der Versuchsstellen schufen beginnend mit der selektiven Bewahrung von Akten und besonders durch ihre Memoiren das Bild eines einzigartigen historischen Ortes, an dem wenige »heldenhafte Männer« epochale Techniken oder sogar nur ein technisches Gerät, nämlich die erste jemals funktionierende Großrakete als epochale Erfindung und Ikone der Moderne schufen.[2] Als Peenemünde historiografisch aufgearbeitet wurde, blieb der Fokus auf die Rakete und die Protagonisten bestehen, wurde lediglich deren Selbstdarstellung dekonstruiert und ihre Verstrickung in das NS-System und den deutschen Eroberungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg nachgewiesen, ohne dass ein neues Narrativ entstand. Denn die historischen Dokumente und Fotos, die primär das Wissen über Peenemünde überliefert haben, vermitteln nur Ausschnitte oder gar keinen Eindruck der konkreten räumlichen und praktischen Begebenheiten, in denen die Geschichte Peenemündes spielte. Sie machen Ideen und fertige Produkte verständlich, jedoch nur selten den Weg dorthin. Das tatsächliche Arbeiten und Leben am historischen Ort bleibt eine Black Box. Darin verschwinden auch die tausenden Menschen, die nicht an exponierten Stellen – und viele von ihnen unter Zwang – arbeiteten. Daneben sind historische Quellen immer von einem konkreten Akteur mit einer bestimmten Intention verfasst, die quellenkritisch analysiert werden muss. Besonders Fotos und Filme sind oft nicht nur dokumentarisch, sondern mit einem propagandistischen Hintergedanken entstanden. Sie gewinnen erst dann eine Aussagekraft, wenn sie in ihrer Konstruiertheit inklusive dem, was nicht zu sehen ist, mit ihrem Produktionskontext – offiziell oder privat, intern oder für die Öffentlichkeit bestimmt – sowie mit ihrer zeitgenössischen und retrospektiven Rezeption analysiert werden.[3]

Was Akteuren mit Deutungsmacht unangenehm oder so selbstverständlich erschien, dass sie es nicht in Wort oder Bild festhielten, lassen – zumindest offizielle – Texte und Bilder außen vor. Wissen über das zeitgenössisch Unbedeutende dagegen speichern archäologische Quellen, also kulturell geformte Landschaften mit ihren baulichen Überresten und materiellen Hinterlassenschaften. Zerstörte Stätten, Abfallgruben und Deponien sind entsprechend wichtige Fundgruben. Gerade Infrastrukturen[4] und Alltagsleben bleiben im Dunkeln, wenn man nicht nach ihnen gräbt. Darüber hinaus verleihen die Verortung baulicher Reste an einer exakten Stelle und die Materialität dort gefundener Objekte der Geschichte eine geografische Dimension. Die Archäologie entwickelt eine Topografie vergangenen Geschehens, zeigt also, dass sich Geschichte an konkreten Orten abspielte und genauso von diesen Orten geprägt war, wie sie die Orte veränderte.[5]

Klassischerweise wird mit archäologischen Methoden Wissen über schriftlose Kulturen gewonnen. Sie eignen sich aber auch zum Verständnis von modernen Gesellschaften, deren Schrift- und Bildquellen mit dem Verlassen eines Orts verschwunden sind oder durch Gewaltakte zerstört wurden. Das macht die Archäologie für das Verständnis von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg überaus wichtig. Die nationalsozialistische Gesellschaft hat überall in Europa Spuren hinterlassen, die bis heute allenthalben in kompletten Gebäuden noch vorhanden oder im Boden zu erkennen sind. Indem die Archäologie das vergangene Unrecht sozusagen forensisch herausarbeitet, ist sie eine zentrale wissenschaftliche Grundlage der deutschen Erinnerungskultur geworden.[6] Historische Orte, Gebäude und Ruinen übernehmen immer mehr die Rolle von menschlichen Zeitzeugen, die bisher als die glaubwürdigsten Bürgen galten und einen persönlichen und direkt nachvollziehbaren Bezug zur Vergangenheit herstellten. Sie sind materielle Belege, dass Geschichte nicht vergangen und abgeschlossen ist, sondern weiter fortbesteht.

Allerdings bringt die Archäologie nicht immer eindeutige Erkenntnisse hervor, wie sie öffentlich von einer Wissenschaft gerne erwartet werden. Die archäologischen Befunde sowie die Funktionen und Bedeutungen der archivierten Objekte bleiben oft mehrdeutig, vage oder gar widersprüchlich. Insbesondere sind im Feld häufig unterschiedliche Zeitschichten anzutreffen, die von verschiedenen, teils konträr zueinander stehenden Nutzungen eines Ortes stammen. Deshalb zielen Archäologen nicht darauf ab, aus ihren Untersuchungen eine konsistente und umfassende Erzählung über vergangene Gesellschaften zu konstruieren. Sie bleiben sich bewusst, dass sie nur einzelne Ausschnitte früherer Kulturen analysieren und daraus nur Ausschnitte der Vergangenheit montieren oder collagieren, in denen die Brüche zwischen den einzelnen Erkenntnissen deutlich bleiben. Oft ist die wichtigste Erkenntnis archäologischer Forschung, dass die Vergangenheit weit komplexer war und weniger einfach zu verstehen ist, als wir es gerne hätten.

Schließlich vermitteln archäologische Funde und anderweitig gesammelte Dinge im Gegensatz zu Dokumenten und Fotos einen dreidimensionalen Eindruck des Vergangenen, eröffnen einen direkten, weil haptisch erfahrbaren und nicht reproduzierten Zugang zur Geschichte, die buchstäblich vor ihren Betrachtern liegt. Damit sind Dinge viel stärker als abstrakte Medien mit »Aura«[7] aufgeladen, der eigenartigen Ausstrahlung, die aus der direkten Verbindung in eine fremde Vergangenheit entsteht. Obwohl ein spezielles Ding meist keiner einzelnen Person zugeordnet werden kann, bricht es doch die Geschichte auf eine individuelle Ebene herunter, weil es klar verständlich einer Vertreterin oder einem Vertreter einer bestimmten Personengruppe gehörte. Es erhellt das Schicksal dieser einzelnen, wenn auch namenlosen Person. Gerade wenn ein Ding Opfern nationalsozialistischen Unrechts zuzuordnen ist, entsteht eine empathische Verbindung ins Heute, wie es Schrift- und Bildquellen als großteils Täterdiskurse nicht vermögen.

Dinge entstehen nicht nur als Produkte des menschlichen Denkens und Handelns, sondern sie beeinflussen auch die Geschichte. Sie werden nicht nur entwickelt und hergestellt, weil Menschen etwas mit ihnen tun wollen, sondern ihre Existenz verleitet Menschen auch dazu, etwas zu tun, das sie ohne diese Dinge nicht getan hätten. Die Dinge haben eine Handlungsmacht. Außerdem haben Dinge oft einen Eigensinn, wenn ihre Nutzung ganz andere Ergebnisse hervorbringt, als es bei der Entwicklung vorgesehen war, oder in Vernetzung mit anderen Dingen ganz neue Funktionen entstehen. Schließlich laden Menschen ihre Dinge mit Bedeutungen auf, die über deren Formen und Funktionen hinausgehen und identitätsstiftenden Charakter haben oder sogar einen Fetischcharakter erhalten können. Jede Person und jede Gemeinschaft ist von den Dingen, mit denen sie arbeitet und lebt, definiert und charakterisiert. Ohne Dinge ist ein Menschsein also gar nicht denkbar, und jede Kultur ist auch ein Produkt von Dingen, eine materielle Kultur.

Wenn Dinge untersucht werden, ist zu fragen, wie und warum sie hergestellt und genutzt wurden, aber auch, welche Einflüsse diese Dinge auf Menschen hatten.[8] Die Geschichte als Wissenschaft schrift- und bildproduzierender Kulturen tut dies nicht nur durch die Untersuchung der Dinge selbst, sondern auch durch das Heranziehen von Dokumenten, die den Umgang mit den Dingen und die Bedeutungszuschreibungen in die Dinge erläutern. Die Methode der Archäologie dagegen ist es, Wissen aus der Fundsituation und dem Verhältnis der Dinge zu anderen Dingen zu ziehen. Die Funktionen und Intentionen von Menschen und Dingen innerhalb eines geistig-materiellen Systems zu verschränken, verleiht der Gesellschaftsgeschichte eine gänzlich neue Analysetiefe.

 

Bauten und Ausstattungen in Peenemünde

Die Versuchsstellen Peenemünde bestanden aus Anlagen der Forschung und Entwicklung sowie der Produktion in industriellem Maßstab und aus weitläufigen Wohnquartieren. Schon ihr Aufbau ab 1936 zählte zu den Großprojekten des NS-Regimes, und die Bandbreite der architektonischen Stile widerspiegelt das nationalsozialistische Bauen im Allgemeinen.[9] Wie bei einem schnell entstandenen und auf Funktionalität ausgerichteten Komplex zu erwarten, folgten die meisten Werksgebäude den Ansätzen der Neuen Sachlichkeit. Das Kohlekraftwerk beispielsweise wurde von 1940 bis 1942 auf der Fläche des entsiedelten Fischerdorfs Peenemünde errichtet, das bis dahin abseits der Rüstungsanlagen gelegen hatte. Die Architektur entstammt dem Baubüro des Siemenskonzerns unter Leitung von Hans Hertlein. Wie in seinen anderen Vorhaben ist das Gebäude in einfachster Geometrie aufgebaut, die eine blockhafte, brutalistische Wirkung erzeugt. Dagegen ist das benachbarte Sauerstoffwerk, dessen Architekt nicht bekannt ist, weitaus kleinteiliger gestaltet (Abb. 1). Während seine fast verspielte Ziegelfassade mit angedeuteten Säulen neoklassizistische Ansätze aufgreift, gleicht die dreischiffige Gliederung des Baus einer romanischen Basilika und feiert in quasi-religiöser Weise die Macht der Technik und Industrie.

Noch stärker als beim Sauerstoffwerk fand der nationalsozialistische Neoklassizismus seinen Ausdruck im Eingangsgebäude der Werksiedlung, und der weitaus sachlichere Repräsentativstil der »Luftwaffenmoderne« zeigte sich im Verwaltungsgebäude der Erprobungsstelle der Luftwaffe. Während diese Bauten nach dem Krieg gesprengt und abgetragen wurden und nur noch auf historischen Fotos überliefert sind, führen das Kraftwerk, der Sitz des Museums, und das Sauerstoffwerk nicht nur die architektonische Vielfalt, sondern auch den industriellen Charakter der Versuchsstellen bis heute physisch vor Augen. Sie sind Zeugnisse des in Peenemünde betriebenen Aufwands und Ressourcenverbrauchs.

Neben den Industrie- und Repräsentationsbauten gehörten auch Gebäude im ländlichen Stil zu den Versuchsstellen. Die Häuser der Werksiedlung und etliche Verwaltungs- und Sozialgebäude in den Werken waren im Heimatschutzstil errichtet, der dezidiert folkloristisch-historistische Architektur überwinden und mit regional verwurzelten Baumaterialien und Baustilen wie steil aufragenden Satteldächern, Gauben und Holzgiebeln eine alternative, völkische Form der Moderne schaffen sollte.[10] Allerdings war der Heimatbegriff nicht auf Norddeutschland beschränkt, sondern – wie auf einem Foto des »Gemeinschaftslagers Ost« zwischen den beiden Werken der Luftwaffe und des Heeres zu sehen und durch einen Fund auf diesem Gelände bestätigt – waren in Peenemünde auch Dächer mit Schieferschindeln gedeckt, die regulär in deutschen Mittelgebirgen verbreitet waren. Dass dieses Baumaterial in Peenemünde genutzt wurde, wo der Baustoff weder geologisch noch kulturell verortet ist, wirft ungelöste Fragen auf. Vielleicht wurde nicht nur im norddeutschen Heimatstil gebaut, sondern Bautypen ganz unterschiedlicher Regionen des Deutschen Reichs fanden in Peenemünde als einer Art Labor des nationalistisch-völkischen Bauens zusammen.

Gänzlich wahllos wurde das ländliche Bauen durch einen landwirtschaftlichen Komplex, der dann doch im ländlich-historistischen Stil mit Fachwerkelementen (Abb. 2) entstand. Der »Müggenhof« wurde unweit des Lagers Ost bis Frühjahr 1943 als Ersatz für das »Vorwerk Peenemünde« errichtet, das der Ausweitung des Flugplatzes gewichen war. Die Höfe versorgten die Großkantinen der Versuchsstellen mit Feldfrüchten und Fleisch und übernahmen noch weitere Aufgaben; beispielsweise hielten Schafe im Inselnorden das Gras kurz und festigten das neu aufgespülte Gelände auf dem Flugplatz und den Deich. Zur Ernährung von 12 000 Mitarbeitern und deren Angehörigen reichte die Landwirtschaft am Ort sicherlich nicht aus, so dass gewiss auch Lebensmittel zugekauft wurden. Aus den Akten ist dazu allerdings nichts überliefert. Einen seltenen Einblick, wie die Versuchsstellen versorgt wurden, gibt ein Foto, auf dem Frauen Angorakaninchen auskämmen, um mit der Wolle Fliegerkombinationen auszufüttern (Abb. 3). Und ebenfalls selten sind Frauen bei der Arbeit zu sehen. Eingesetzt in der Versorgung, Verwaltung und als Hilfskräfte der Forschung, bildeten sie einen nicht unerheblichen Teil des Personals, ohne dass sie in den Akten erwähnt wurden. Eine gewisse Aufmerksamkeit wurde ihnen lediglich in Memoiren und anderen Ego-Dokumenten zuteil, wo sie allerdings für gewöhnlich im traditionellen Rollenbild der Unterstützung und Unterhaltung des Mannes verblieben.

Umwelthistorisch betrachtet, war der Aufbau der Werke und des Flugplatzes ein massiver Eingriff in ein Vogelschutzgebiet und eine weitreichende Umgestaltung und Versiegelung der Landschaft. Statt Bäumen, Gras und Sand dominierte nun der Beton, und statt Pflanzen und Tieren bestimmten Flugzeuge, Gleitbomben und Raketen das Bild und den Ton. Die Bauarbeiten waren nicht bei Beginn der Testaufgaben abgeschlossen, sondern für immer neue Entwicklungsprojekte und Waffentests wurden immer neue Anlagen gebaut, was einen großen Teil der Arbeiter band, die anfangs über private Baufirmen und den Reichsarbeitsdienst rekrutiert wurden. Weil es im Krieg immer mehr an Arbeitskräften mangelte, wurden im Bau und für andere körperlich harte Hilfsarbeiten ausländische Zivilarbeiter und Häftlinge aus dem KZ-Außenlager »Karlshagen I« zur Mitarbeit gezwungen. Damit sind viele heutige Ruinen Denkmale für die Opfer des Nationalsozialismus, besonders der »Truppenmannschaftsbunker T 750«, ein standardisierter Typ, der vielerorts zum Schutz vor Luftangriffen errichtet wurde, in Peenemünde als Reaktion auf das britische Bombardement vom August 1943. An seinem Bau waren etwa 200 Häftlinge beteiligt, von denen sich viele bei der Arbeit verletzten oder starben (Abb. 4).

Ebenso wie in der Architektur sind auch bei der Inneneinrichtung der Versuchsstellen verschiedene Stile erkennbar. Die Gestaltung des Arbeitens und der Sozialräumen lag zentral im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der für Designfragen das Amt »Schönheit der Arbeit« nachgeordnet war. Seine Aufgabe war es, die Arbeitsbedingungen für die Angehörigen der »Volksgemeinschaft« ästhetisch und funktionell aufzuwerten, um ihre Effizienz im Sinne einer optimalen Ausnutzung der begrenzten Ressource Arbeitskraft zu steigern. Als Ideal galt funktionales Design, durchaus in der Tradition der Neuen Sachlichkeit, allerdings dezidiert ohne jeglichen Ausdruck von Individualität. Die Einrichtung im Speisesaal der Kantine Fischer, in der das gehobene Personal der Heeresversuchsstelle aß, setzte diese Vorgaben beispielhaft um (Abb. 5).

Die Brettstühle entsprachen dem Modell 106 des Amts »Schönheit der Arbeit«, das wiederum den populären »Tübinger Stuhl« aus den 1920er-Jahren plagiierte. Auch die Ausschmückung mit einem volkstümlich-historistischen Gemälde Peenemündes und auf der Fläche gefundene Ofenkacheln mit Darstellungen einer Kanone und eines Segels, die wohl eine Schlachtenszene vor Usedom im Dreißigjährigen Krieg darstellten und in Material und Farbgebung dem Warenkatalog der »Deutschen Warenkunde« folgten (Abb. 6), waren mehr als Versuche, rustikale Gemütlichkeit herzustellen. Sie sollten eine regionaltypische Ästhetik erzeugen, in der »Volksgenossen« gleichzeitig eine Heimat fanden und in einer Einheit aufgingen. »Die Gestaltungen des Volkstums und der Rasse« bildeten »eine Harmonie«, wie es der »Ratgeber für bäuerlichen Hausrat« des Deutschen Heimatwerks 1940 ausdrückte.

Die Mitarbeiter der Heeresversuchsstelle hielten sich in der Kantine entsprechend ihres Rangs in unterschiedlichen Räumen auf, die mit unterschiedlichen Materialien und Designs ausgestattet waren. An den überlieferten historischen Fotos lassen sich drei Typen aufzeigen, die exemplarisch sind für das NS-Design im Ganzen:[11] Für die kleinen Angestellten war ein bäuerlich-rustikales Ambiente vorgesehen, für die mittlere Ebene der abgebildete sachliche, stärker ausgeschmückte Saal und für die Leitungsebene ein separates Kasinogebäude mit Parkettböden, Lüstern, einer Musikempore und einer großformatigen propagandistischen Wanddekoration. In den Sozialräumen der Peenemünder Werke fügten sich die Mitarbeiter ins Regime ein, das auch über Innenausstattungen eine gleichermaßen homogenisierende wie hierarchisierende »Volksgemeinschaft« herstellen wollte und mit Alltagsdingen eine neue gesellschaftliche Struktur und Ideologie etablierte.

 

Wohnen in einer Werksiedlung und Lagern

Dass ein Unternehmen eine Werksiedlung errichtete, in der die Mitarbeiter und ihre Familien günstig und gesund leben konnten, war eine verbreitete Sozialmaßnahme der Industriemoderne. Im Gegenzug erwartete der Arbeitgeber fleißiges und loyales Verhalten. Parallel entstand als Reaktion auf das wilde Städtewachstum im 19. Jahrhundert eine Bewegung von Wohngenossenschaften, in der Arbeiter selbst Siedlungen errichteten und verwalteten. Beide Siedlungsformen waren von der Gartenstadtidee geleitet und von Reihenhäusern geprägt, die den Bewohnern Platz und Luft gaben. In ihren Gärten konnten sie Obst und Gemüse anbauen und sich selbst versorgen. Die Peenemünder Werksiedlung war eine nationalsozialistische Adaption dieser Idee, angelegt als »Reichsmustersiedlung«. Um einen Kern mit neoklassizistischem Stadttor, zentralem Appellplatz, Geschäften für den täglichen Bedarf sowie Kultur- und Unterhaltungseinrichtungen gruppierten sich nacheinander entstandene Wohngebiete. Großzügige Wohnungen und viel Grün mit Bepflanzung aus bodenständigen Arten sollten den Bewohnern das Leben gleichzeitig komfortabel machen und sie in die Blut-und-Boden-Ideologie des Regimes integrieren.

In der Werksiedlung lebten vor allem die Mitarbeiter der Versuchsstellen mit ihren Familien, in der Spitze ein Drittel aller 15 000 Bewohner Peenemündes. Die Mehrheit dagegen bestand aus Alleinstehenden, Dienstverpflichteten, Arbeitern von Fremdfirmen und einfachen Soldaten, die als unterprivilegierte »Volksgenossen« in Wohnheimen oder Barackenlagern lebten. Noch heute sind in der Landschaft die Überreste mehrerer Lager erkennbar, an denen der hierarchische Charakter des Konzepts der »Volksgemeinschaft« abzulesen ist.

Der erste Unterkunftsbereich, in dem die Arbeiter, die ab 1936 die Versuchsstellen aufbauten, und die ersten Angestellten einquartiert waren, war das »Gemeinschaftslager Ost«. Die Anlage mit Appellplatz und Versorgungseinrichtungen sowie die Ausführung der Holzbaracken entsprachen den Normen des DAF-Bauprogramms. Errichtet wurden sie, zumindest in Teilen, von der Wolgaster Holzbau Gesellschaft, die zunächst Bädervillen gebaut hatte, sich im Zuge der NS-Wirtschaftspolitik aber auf Baracken spezialisierte. Die Gebäude waren für eine kurzfristige Nutzung ausgelegt, deshalb auf minderwertigen Fundamenten errichtet und sind heute allesamt vergangen. Über das Leben in den Baracken, die bis zu 3 000 Personen belegten, gibt es wenige Informationen. Weil das Lager auch organisatorisch den Standards der DAF entsprach, kann davon ausgegangen werden, dass die Menschen dort, wie an anderen großen Baustellen und Industriestandorten, kaserniert und einfach, aber auskömmlich lebten. Auf dem Gelände gefundene Einrichtungs- und Alltagsgegenstände geben Einblick in das Leben einfacher Arbeiter und Soldaten und verleihen der Geschichte eine persönliche Note (Abb. 7). Je niedriger die soziale Stellung in der NS-Gesellschaft und die Position im Betrieb war, desto mehr Männer – bis zu acht – teilten eine Stube. Alle Bewohner einer Baracke nutzten eine gemeinsame Sanitäranlage. Privater Rückzugsraum blieb ihnen nicht, und zur Aufbewahrung ihrer persönlichen Dinge hatten sie jeweils nur einen Spind. Die Verpflegung übernahm ein privater Kantinenbetreiber, der sich mit zwei anderen Pächtern die Werke und großen Lager aufteilte.

Nach außen wurden die Lager vorgezeigt als Orte, an denen einfache und hart arbeitende »Volksgenossen« eine neue Gesellschaft aufbauten. In diesem Sinne tauchte das Wirtschaftsgebäude des »Gemeinschaftslagers Ost«, das zwar aus Holz gebaut war, aber über eine durchaus repräsentative Front mit Reichsadler und Hakenkreuz verfügte, auch auf einer Ansichtskarte auf.

Noch deutlicher propagierte ein Artikel der Stettiner Rundschau 1941 das Lager Karlshagen, das neben der Werksiedlung gelegen und mit zwölf Wohnbaracken für 4000 Menschen ausgelegt war, als eine vorbildliche Einrichtung der DAF, in der »die Frontkämpfer der Arbeit« fast so angenehm wie zuhause leben und einen wichtigen Beitrag zum Sieg Deutschlands leisten würden. Als Ausgleich zur tatsächlichen Monotonie des Alltags betrieb die DAF im zentralen Wirtschaftsgebäude (Abb. 8) neben Einrichtungen der Versorgung in einem großen Saal ein Kino- und Veranstaltungsprogramm, um mit einer kurzweiligen Freizeitgestaltung die deutschen Bewohner zur harten und produktiven Arbeit zu motivieren. Dazu diente auch der Verkauf von Tabak und Alkohol sowie der Betrieb eines Bordells, in dem meist ostmittel- und osteuropäische Frauen zur Prostitution gezwungen wurden. Dokumentiert ist dies in den Akten zumindest für das Lager Trassenheide.

Wenn die Prostitution auch eine extreme Form der Zwangsarbeit war, stellte im Baubetrieb die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte die Regel dar. Im Lager Karlshagen lebten nicht nur Bauarbeiter, die bei der Heeresversuchsstelle angestellt oder von Fremdfirmen abgeordnet waren, und deutsche Soldaten, sondern ab Kriegsbeginn auch französische und polnische Zwangsarbeiter, die von den Deutschen separiert waren. Ebenso lebten im Lager Trassenheide, das für den Bau des Serienwerks entstand, ab 1941 unter den 5 000 Bauarbeitern nicht nur Deutsche, die von Fremdfirmen und Reichsarbeitsdienst gestellt waren, sondern in abgesonderten Bereichen auch Italiener, Niederländer, Tschechen, Polen und Ukrainer. Ein eigenes Lager nur für polnische Zwangsarbeiter grenzte südlich ans Lager Karlshagen und ist heute von dem Wohnort überbaut. Wiederum in Nachbarschaft dazu und in einem weiteren Lager auf dem Festland bei Wolgast waren sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert. In drei abgesperrten Baracken neben dem »Gemeinschaftslager Ost« quartierte die Luftwaffe Wehrmachtsgefangene aus dem Gefängnis in Anklam ein, die im Außenkommando Strafarbeit für ihren Dienstherrn leisten mussten. Ab 1943 wurde dieser Bereich als Außenlager des KZ Ravensbrück geführt, das mit etwa 800 Häftlingen unterschiedlicher Nationalitäten belegt war.

Die Lagerstrukturen, in denen Ausländer und Häftlinge bewusst von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt oder ausgesperrt waren, veranschaulichen, wie stark die NS-Siedlungspolitik ein Instrument war, um einerseits inkludierend, andererseits exkludierend eine ethnisch homogene »Volksgemeinschaft« herzustellen. Ausländer hatten ihre Existenzberechtigung im Deutschen Reich rein als Arbeitskräfte. Als Quellen, die von ihrem Leben erzählen, sind zum einen Briefe, Zeitzeugenaussagen und Memoiren überliefert, die von harten Arbeitsbedingungen und außerhalb der Arbeitszeiten von einer Spannbreite zwischen Langeweile und Heimweh bis hin zu Misshandlungen berichten. Zum zweiten existieren wenige historische Fotos der Kriegsgefangenenlager, gar keine jedoch von den KZ-Außenlagern. Deshalb sind archäologische Erkundungen, Vermessungen und Funde eine dritte Methode, um Wissen über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Ausländern und Häftlingen zu generieren. Von einer Baracke des Lagers »Karlshagen I« wurde das Frontfundament freigelegt und der Ort als ein Teil des öffentlichen Rundwegs »Denkmal-Landschaft Peenemünde«[12] ausgewiesen. Denn neben der rationalen Erkenntnis eröffnet der Besuch des Ortes, an dem Menschen litten und getötet wurden, auch einen emotionalen Zugang zur Geschichte von großem pädagogischem Wert. Auf Objektebene sind einige dekorative Kästchen, Holzspielzeuge und Gemälde geblieben, die sowjetische Kriegsgefangene anfertigten und mit deutschen Mitarbeitern der Versuchsstellen und Einwohnern gegen Nahrung tauschten, sowie ein selbst gemachter Blechlöffel, der auf der Fläche des ehemaligen Lagers gefunden wurde (Abb. 9). Er besteht aus ähnlichem Leichtmetall, wie es bei den Fluggeräten im Werk West der Luftwaffe verbaut wurde. Vielleicht nahm ein Häftling ein Alu-Blech aus einer Werkhalle mit und formte daraus Besteck. Das Objekt mit den Ausstattungen der Kantinen in Beziehung zu setzen, verdeutlicht eindrucksvoll die prekäre Situation der Häftlinge.

Wie in Peenemünde machten im ganzen Deutschen Reich die riesigen Bauprojekte für Infrastrukturanlagen, Rüstungseinrichtungen und Herrschaftsarchitektur das Leben in Lagern zur Normalität. Die Existenz der unterschiedlichen Lager am selben Ort verweisen jedoch besonders deutlich auf die disziplinierende Bedeutung der Arbeit im NS-System. Menschen mussten sich über harte Tätigkeiten im staatlichen Einsatz des Reichsarbeitsdiensts und des Wehrdiensts als nützliche Teile der »Volksgemeinschaft« bewähren. Auch eine Beschäftigung in der Privatwirtschaft wurde nur dann als sinnvoll erachtet, wenn sie dem Gemeinwesen diente. Andererseits wurden all diejenigen, die wegen mangelnder Nützlichkeit oder aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen aus der nationalsozialistischen Gemeinschaft ausgestoßen waren, durch ebenfalls harte, gefährliche oder demütigende Arbeit bestraft und zu einem produktiven Beitrag für die Mehrheitsgesellschaft gezwungen. Eine individuelle Freiheit herrschte in den Arbeitsverhältnissen nie. Dass der Übergang von bewährender Arbeit zur Zwangsarbeit fließend war, zeigen die Lebensverhältnisse in den Peenemünder Lagern. Zudem widerspiegelten sie die hierarchische Struktur der NS-Gesellschaft, in der erniedrigendes Leben und Arbeiten nicht als unmenschlich galt, sondern als ein gerechtfertigtes Einordnen in diese Hierarchie.

 

Praxis der Raketenproduktion

Die Arbeiten in der Heeresversuchsstelle Peenemünde deckten den gesamten Entwicklungsprozess von den technikwissenschaftlichen Grundlagen bis zum praktischen Testen ab. Der Raketenantrieb, die Aerodynamik, die Steuerung und das Material wurden in Instituten und Labors theoretisch erforscht, die Arbeiten in der technischen Direktion koordiniert und dort auch mögliche Konstruktionen des Gesamtgeräts entworfen. Auf Basis der Konstruktionspläne wurden in einem Fertigungskomplex einzelne Raketen in unterschiedlichen Ausführungen, Materialien etc. hergestellt. Diese Einzelfertigung war Teil der Forschungsarbeit. Denn die Prototypen wurden anschließend in Prüfständen im Trial-and-Error-Verfahren getestet und die im praktischen Versuch erlangten Erkenntnisse wieder in die Forschungs- und Entwicklungsarbeit zurückgespielt. Doch das Raketenprojekt umfasste nicht nur Forschung und Entwicklung, sondern es war ein Rüstungsvorhaben, das neuartige Fernwaffen möglichst schnell und in möglichst großer Stückzahl zur Verfügung stellen sollte, damit das Deutsche Reich den Luftkrieg gegen die Westalliierten gewinnen könne. Deshalb wurde schon seit 1939 eine Fabrik für die geplante Serienfertigung der A4-Rakete gebaut, deren Konstruktion noch längst nicht festgelegt war und deren Prototyp erst drei Jahre später fertig sein sollte. Das »Werk Süd« war eine Industrieanlage auf der Höhe der Zeit, in deren Zentrum zwei Produktionshallen standen und die außerdem Verwaltungs- und Versorgungsgebäude sowie Lager und Bahnanschlüsse zum Transport von Material und den fertigen Geräten umfasste.

Die kommende Serienfertigung erhöhte den Organisations-, Material-, Personal- und Finanzaufwand des gesamten Projekts enorm. Eine eigene Gruppe im Heereswaffenamt schuf unabhängig vom Entwicklungswerk die Strukturen des Fertigungswerks und koordinierte seine Entstehung. Vor Ort plante das Ingenieurbüro »Baugruppe Schlempp«, und die Dyckerhoff & Widmann AG führte den Bau aus. Auf der Baustelle arbeiteten neben Deutschen auch viele zwangsrekrutierte Männer aus den besetzten Niederlanden.

Der Bau des Fertigungskomplexes und die Planung der Abläufe sind in den Akten gut dokumentiert. Die Fertigungshalle 1, das größte Gebäude der Peenemünder Anlagen, war mit einem freitragenden Sheddach konstruiert, so dass für die reibungslose Produktion der neuartigen technischen Geräte im Obergeschoss eine riesige Fläche ohne störende Säulen entstand. Weil über die Praxis in der Halle nur wenige Berichte vorhanden sind, ergibt erst die Verknüpfung der historischen Quellen mit den archäologischen Befunden ein Bild: Die Rampe von der Produktionsebene hinab zum Haupttor war zu eng geplant, als dass darüber die komplettierten 14 Meter langen Raketen hätten die Halle verlassen können. Deshalb diente die Fertigungshalle in einem zweiten Planungsstadium nur zur Fertigung von Baugruppen, und für die Endmontage war die Instandsetzungswerkstatt vorgesehen, in der ursprünglich die fertigen Serienraketen hätten kontrolliert und bei Fehlfunktionen repariert werden sollen. Das erste unvollständige Mustergerät, an dem der Fertigungsablauf geprobt wurde, verließ das Werk im Februar 1943.

Im April 1943 beschlossen die Fertigungsplaner, den Strukturen des Heinkelwerks in Oranienburg zu folgen und in der Serienfertigung KZ-Häftlinge einzusetzen. Im Juni kam ein Vortrupp von Häftlingen an, um im Sockelgeschoss der Fertigungshalle einen Unterkunftsbereich einzurichten, der formal als Außenlager »Karlshagen II« des KZ Ravensbrück fungierte, und um die Halle herum eine Absperrung mit Zäunen und Stacheldraht zu bauen. Dass Häftlinge die Halle einzäunen mussten, um ihre eigene Flucht zu verhindern, klingt in den historischen Akten sehr abstrakt. Der Fund einer Stacheldrahtrolle im Schutt der gesprengten Halle macht die Geschichte jedoch konkret nachvollziehbar und schafft eine emotionale Verbindung dazu (Abb. 10). Die Abläufe nicht nur des Arbeitseinsatzes, sondern auch der anlaufenden Fertigung insgesamt sind am besten dokumentiert durch die Memoiren des Franzosen Michel Fliecx, der von nicht vorhandenen Routinen und Unkenntnis der Vorarbeiter berichtet, für welche Tätigkeiten sich die ungelernten Häftlinge überhaupt eigneten. Was genau bis August in den Fertigungshallen geschah, ist jedoch weiter unklar. Dass Raketen oder zumindest Teile davon produziert wurden, legen Funde von Bauteilen der Rakete und noch mehr von Aluminiumspänen nahe. Denn wo Abfälle der Bearbeitung von Rohstoffen oder Werkstücken entstanden, müssen auch Fabrikate hervorgegangen sein.

Noch bevor die Serienproduktion im nennenswerten Maßstab anlief, traf im August 1943 ein britischer Luftangriff Peenemünde. Dabei kam den gewaltigen Betonkonstruktionen, die das Gewicht der industriellen Fertigung im Obergeschoss der Halle trugen und als Treppenhäuser dienten, auch die Funktion von Bunkern zu (Abb. 11). Michel Fliecx schrieb, dass er und seine Mithäftlinge die Halle nicht verlassen durften, sondern eng eingepfercht in den Innenraum eines Kerns gesperrt wurden.[13] Ein Foto, das eigentlich Beschädigungen der Produktionsebene durch Bomben dokumentieren sollte, hat im Hintergrund zufällig Häftlinge beim Aufräumen festgehalten. Dies ist der einzige bildliche Beleg für die Anwesenheit von KZ-Häftlingen in Peenemünde. Auch wenn keine irreparablen Schäden entstanden waren, brachte der Luftangriff die Gewissheit, dass auf der flachen Ostseeinsel die Produktion nicht mehr sicher war. Zum Schutz vor weiteren Angriffen vergab das Rüstungsministerium die Baugruppenfertigung an Privatunternehmen und ließ in Häftlingsarbeit das unterirdische »Mittelwerk« im Südharz errichten. Dorthin wurde das Serienfertigungswerk mitsamt angestellten Mitarbeitern und Häftlingen sowie einem Großteil der Ausstattung verbracht. Die Instandsetzungswerkstatt in Peenemünde diente fortan zur Reparatur von fehlerhaften Raketen, seien sie aus dem Entwicklungswerk oder aus dem Mittelwerk. Denn von dort kamen seriengefertigte Raketen nach Peenemünde, um kontrolliert zu werden, insbesondere aber um neu entwickelte Einzelteile damit zu erproben. Prototypen, beispielsweise eines Steuergeräts, wurden in die Standardrakete eingebaut, diese anschließend verschossen und gemessen, ob die Weiterentwicklung das Gesamtgerät verbesserte.

Heute steht das Trümmerfeld des Serienfertigungswerks, das nach intensiver Planung und dreijährigem Bau durch ein Bombardement von etwa 45 Minuten zerstört wurde, geradezu symbolisch für den zwecklosen Aufbau der Rüstungsanlagen und den deutschen Irrweg, mit Raketen den Krieg gewinnen zu wollen. Und es ist ein Gedenkort für den Einsatz, das Leiden und den Tod von KZ-Häftlingen in diesem Rüstungsprogramm.

 

Fazit und Ausblick

Über die Geografie und die physischen Relikte betrachtet, wirkt die recht abgeschlossene Welt an der Nordspitze der Insel Usedom, die ab 1936 aus dem Nichts entstand, als sehr typisch für den Nationalsozialismus und geradezu als eine brennglasartige Verdichtung dieser Gesellschaft. In Peenemünde entstand sowohl baulich wie sozial eine neue Form des Zusammenlebens, die aus unterschiedlichen Stilen eklektisch zusammengesetzt war. Nicht nur politisch-ideologische Vorgaben, sondern auch funktionelle Aspekte und persönliche Geschmäcker entschieden darüber, welche Gebäude und Anlagen entstanden und wie gut oder schlecht darin die Menschen arbeiteten und lebten. Gerade Ausländer und Häftlinge als die Opfer dieser Gesellschaft, aber auch andere Bevölkerungsgruppen, die in den schriftlichen Archivalien und Memoiren der Protagonisten nur marginal auftauchen oder gar bewusst verschwiegen wurden, werden erst durch wenige Fotos und ihnen zuzuordnende Dinge sichtbar.

Die planmäßige Herstellung einer neuen rassistischen, diktatorischen, militaristischen und patriarchalen Gesellschaft begann bereits im Krieg zu scheitern. Der britische Luftangriff im August 1943 zerstörte nicht nur Bausubstanz in Peenemünde, sondern auch dieses gesellschaftspolitische Vorhaben. Peenemünde war von nun an eine Kriegsgesellschaft, die baulich von Beschädigungen und Provisorien, mental von Angst vor neuerlichen Angriffen, dem Gefühl, Opfer feindlichen Terrors zu sein, immer größeren Erwartungshaltungen bei immer größerem Ressourcenmangel sowie von zunehmender Überwachung und Gängelung auch der Mehrheitsgesellschaft geprägt war. Zum Schutz vor Luftangriffen wurde nicht nur das Fertigungswerk in den Harz verlagert, sondern mehrere Einrichtungen des Entwicklungswerks und der Truppenausbildung wurden über die gesamte Insel dezentralisiert. Mit der Flucht der Entwicklerteams vor der näher rückenden Sowjetarmee ab Februar 1945 lösten sich die Versuchsstellen der Luftwaffe und des Heeres auf. Die Besatzungsmacht transportierte alles bewegliche Material ab und ließ ab 1947 die meisten Gebäude sprengen. Die Region wandelte sich von einem Rüstungszentrum zurück zur ländlichen Peripherie, in der Fischerei, Land- und Forstwirtschaft die vorherrschenden Gewerbe waren.

An der Küste der Insel etablierte sich wie schon vor 1936 der Tourismus, der in der DDR vom Staat und von der Einheitspartei gelenkt war. Weil einige Bauten und etliche Ruinen die Jahrzehnte überdauert haben, sind heute auf Usedom – wie in ganz Europa – die Spuren des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs nicht nur an prominenten Zentren, sondern überall gegenwärtig.

Der hier vorgestellte Ansatz, das Rüstungszentrum Peenemünde über eine Kombination von Bildern der Ruinenlandschaft, historischen Fotos und Fundstücken in seiner ganzen Komplexität und Diversität verständlich zu machen, soll auch die neue Dauerausstellung leiten, die das Historisch-Technische Museum derzeit erarbeitet. Die konkrete lokale Geschichte wird in ihrer Vernetzung mit der breiteren deutschen und europäischen Geschichte dargestellt, und am Beispiel des Rüstungszentrums werden Strategien und Praktiken der nationalsozialistischen Eroberung, Ausbeutung und Vernichtung herausgearbeitet. Die dort geschaffenen Innovationen lassen den Nationalsozialismus als eine fundamental verbrecherische Variante der technischen Moderne erscheinen. Wenn der Ort ernstgenommen wird, muss auch über 1945 hinaus seine landschaftliche Entwicklung beleuchtet und seine technik- und erinnerungshistorische Bedeutung bis heute reflektiert werden. Die Diskussion der lange dominanten fortschrittseuphorischen Narrative und der Versuche ihrer Dekonstruktion ermöglicht es, auf die ideologische Bedeutung von Technik in modernen Gesellschaften zu verweisen.

Die Ruinen über Fotos in die Ausstellung zu bringen, dient auch dazu, authentische Orte erfahrbar zu machen, die aus Gründen des Naturschutzes und der Munitionsbelastung in einem unbegehbaren Sperrgebiet liegen. Der Verweis auf diese Orte soll motivieren, nach dem Besuch des Erkenntnismediums Ausstellung die historischen Schauplätze selbst zu besuchen. Das Historisch-Technische Museum möchte seit einigen Jahren das ehemalige Lager »Karlshagen II«, das im Sperrgebiet liegt, zugängig machen, um seine Geschichte im Rahmen des Rundwegs »Denkmal-Landschaft« intensiver zu vermitteln. An beiden KZ-Außenlagern sollen vertiefende Lernformate angeboten und der zivilgesellschaftlichen Nachfrage nach Gedenken am historischen Tatort ein würdiger Rahmen geschaffen werden.

 

Dr. Philipp Aumann hat Geschichte und Geografie in München und Wien studiert und seine Doktorarbeit am Deutschen Museum in München verfasst, danach in verschiedenen Museen tätig. Ab 2014 Kurator und wissenschaftlicher Leiter des Historisch-Technischen Museums Peenemünde.

 

[1]    Siehe den Begleitband zur Ausstellung Historisch-Technisches Museum Peenemünde (Hg.): Die Ruinen von Peenemünde. Vom Werden und Vergehen einer Rüstungslandschaft, Berlin 2023. Dieser Aufsatz ist auf Grundlage der Ausstellung und ihres Begleitbands entstanden. Neben dem Autor erarbeitete Daniela Teschendorff die Ausstellung und das Buch. Beide Werke widerspiegeln außerdem Zwischenergebnisse des DFG-geförderten Forschungsprojekts »Die baugeschichtliche Erforschung der F1 in Peenemünde als Beitrag zur archäologischen Erschließung materieller Hinterlassenschaften an kontaminierten Kulturerbestätten«, angesiedelt am Fachgebiet Baugeschichte der BTU Cottbus-Senftenberg, geleitet von Constanze Röhl und Peter I. Schneider.

 

[2]    Die Erinnerungsgeschichte diskutiert Historisch-Technisches Museum Peenemünde (Hg.): Krieg oder Raumfahrt? Peenemünde in der öffentlichen Erinnerung seit 1945, Berlin 2019.

 

[3]    Theoretisch hat das interdisziplinäre Projekt »Das Technische Bild« der HU Berlin die kultur- und kunsthistorische Analyse gerade natur- und technikwissenschaftlicher Bildakte vorangetrieben. Dazu Horst Bredekamp u.a. (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008. Zur Analyse von Bildern als Methode der Zeitgeschichte v.a. Gerhard Paul: Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen 2020.

 

[4]    Dazu Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018.

 

[5]    Siehe Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.

 

[6]    Die Methode beschrieben und theoretisch fundiert hat besonders Reinhard Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte, Bielefeld 2017.

 

[7]    Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), in: Gesammelte Schriften. Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980.

 

[8]    Zur Rolle der Materiellen Kultur in der Geschichtsschreibung Tony Bennett u. Patrick Joyce (Hg.): Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London 2010; Stefanie Samida u.a. (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014; Zeithistorische Forschungen 13 (2016), Heft 3: Der Wert der Dinge, hg. von Simone Derix u.a.

 

[9]    Die Baugeschichte Peenemündes ist aufgearbeitet bei Constanze Röhl u. Peter I. Schneider: The Material Remains of the former Heeresversuchsanstalt Peenemünde between Mythicization, Uncomfortable Heritage and Reclamation, in: F. Jürgens u. U. Müller (Hg.): Archäologie der Moderne. Standpunkte und Perspektiven (Historische Archäologie, Sonderband), Bonn 2020, S. 289–331; Leo Schmidt u. Uta K. Mense: Denkmallandschaft Peenemünde. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme – Conservation Management Plan (hg. v. Historisch-Technischen Museum Peenemünde), Berlin 2013. Generell zur Sozial- und Kulturgeschichte des Bauens Werner Durth u. Paul Sigel: Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009; Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005; Winfried Nerdinger (Hg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus. Zwischen Anbiederung und Verfolgung, München 1993.

 

[10]  Dazu Rainer Schmitz: Heimat. Volkstum. Architektur. Sondierungen zum volkstumsorientierten Bauen der Heimatschutz-Bewegung im Kontext der Moderne und des Nationalsozialismus, Bielefeld 2022.

 

[11]  Diese Typen sind aufgestellt bei Sabine Zentek: Designer im Dritten Reich. Gute Formen sind eine Frage der richtigen Haltung, Dortmund 2009. Zur Gestaltung im NS siehe außerdem Sonja Günther: Design der Macht. Möbel für Repräsentanten des »Dritten Reiches«, Stuttgart 1992; Monika Luise Ständecke: Das Deutsche Heimatwerk. Idee, Ideologie und Kommerzialisierung (Kommission für bayerische Landesgeschichte, Institut für Volkskunde), München 2004.

 

[12]  Die Denkmal-Landschaft Peenemünde ist vorgestellt unter museum-peenemuende.de/das-museum/die-denkmal-landschaft. Neben Schildern und Flyern wird sie über einen digitalen Multimedia-Guide vermittelt, der als App kostenlos zur Verfügung steht.

 

[13]  Michel Fliecx: Vom Vergehen der Hoffnung. Zwei Jahre in Buchenwald, Peenemünde, Dora, Belsen, Göttingen 2013, S. 71f. Zu bestimmen, welchen Betonsockel Fliecx beschrieb, und wo genau in der Halle das Außenlager verortet war, ist eines der Ziele des Projekts »Die baugeschichtliche Erforschung der F1 in Peenemünde«, siehe Anm. 1.