Der klassische Begriff der Mnemosyne, der Erinnerung, hat seinen Ursprung in der Katastrophe. Nach dem Einsturz eines Theaters, so berichtet Cicero, sollte einer der Überlebenden die vollkommen entstellten Toten identifizieren. Dies gelang ihm nur, weil er sich eingeprägt hatte, an welchem Platz die Opfer saßen und wer sie waren. Das Andenken der Toten soll durch deren Identifizierung gerettet werden.
Seitdem Cicero dieses Beispiel angeführt hat, dienen bestimmte, gerade auch räumliche »Merkbilder«1 in der europäischen Tradition dazu, die Erinnerung zu bewahren.2 Diese Situation aus der Antike hat nicht zufällig Parallelen zur Situation nach dem Holocaust. Auch im Falle dieser Katastrophe sind es bestimmte Merkbilder: mentale Vorstellungen, aber auch materielle Spuren, die zum aktuellen Bild vom Nationalsozialismus und zur Erinnerung an seine Opfer beitragen. Materielle Zeugnisse, wie die riesigen Gebäude der von Hitler geplanten neuen Hauptstadt Germania sollten der Nachwelt die Größe des Nationalsozialismus in Erinnerung rufen. Im Gegensatz zu dieser Absicht sind es heute vor allem die Gebäude und Stätten des Terrors, die wir mit dem Nationalsozialismus verbinden. Sie dienen uns als »Merkbilder« für das, was in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in Europa geschah. Sie stellen »Erinnerungsorte«3 (Assmann) dar, die die mit ihnen verbundenen Vorstellungen sinnlich erfahrbar machen.
Der Übergang zur institutionalisierten Erinnerung an den Nationalsozialismus
Die Erinnerung an die Katastrophe des Holocaust und an ihre Opfer ist auch über fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus noch lebendig. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat jedoch deutliche Konsequenzen für die Betrachtung und Behandlung des Nationalsozialismus mit sich gebracht. Die ›Nachkriegsgeschichte‹ der DDR wie der Bundesrepublik scheint nunmehr abgeschlossen, und der Nationalsozialismus wird mit zunehmender zeitlicher Entfernung zu einem historischen Abschnitt in der deutschen Geschichte.
Unabhängig vom noch andauernden Streit um die Rolle, die dem Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in der gegenwärtigen Gesellschaft eingeräumt werden soll, führt dies nicht nur zur Relativierung der Ereignisse, sondern auch zur Institutionalisierung der Erinnerung.4 Sowohl das Bestreben, die gesellschaftliche Diskussion um den Nationalsozialismus zu beenden, als auch das Bemühen um ein Wachhalten der Erinnerung treffen sich in der Absicht, die unangenehmen Erinnerungen dadurch in die eigene Geschichte zu integrieren, daß man Institutionen: Denkmäler, Gedenkstätten und Dokumentationszentren für sie schafft. Der ambivalente Charakter dieser Bemühungen kommt in der Diskussion um die Errichtung eines Holocaust-Mahnmals in Berlin zum Ausdruck. Die geplante Errichtung eines Denkmals, eines ›Merkbildes‹, in der Hauptstadt des vereinten Deutschland, in unmittelbarer Nähe zu nationalen Symbol ›Brandenburger Tor‹, stellt die offizielle Anerkennung dieses Teils der eigenen Geschichte dar. Diese Art der Anerkennung wird begleitet von der Einrichtung weiterer Institutionen, die der Erinnerung dienen. Die provisorisch untergebrachte Ausstellung zur »Topographie des Terrors« am Ort der ehemaligen Gestapo-Zentrale in Berlin soll ein festes Gebäude erhalten und zum Dokumentations- und Ausstellungszentrum ausgebaut werden. Die Gedenkstätten an den Orten der Konzentrationslager erhalten neue Ausstellungen und die vorhandenen baulichen Überreste der Lager werden erhalten. Dokumentationszentren und KZ-Gedenkstätten entwickeln sich immer mehr zu zeitgeschichtlichen Museen zum Nationalsozialismus.5
Der Veränderung der Erinnerung durch Institutionalisierung
Im Unterschied zur eingangs beschriebenen Situation stehen wir heute jedoch an einem Punkt, der den Charakter der Erinnerung an den Nationalsozialismus einschneidend verändert. Die Augenzeugen der Katastrophe werden immer weniger. Soweit es die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus betrifft, stehen selbst die jüngsten von ihnen an ihrem Lebensende. Diese Situation führt gegenwärtig zu einer Flut von Lebenserinnerungen, die Deportation, Krieg, Zwangsarbeit und Konzentrationslager thematisieren. Verschiedene Institutionen haben in den letzten Jahren Interviews mit ehemaligen KZ-Häftlingen geführt, um deren Schicksal zu dokumentieren. Die gegenwärtige Phase bezeichnet den Übergang von der personalisierten zur institutionalisierten Erinnerung.6 Wenn diese Phase zu Ende geht, werden Archive, Gedenkstätten und Dokumentationszentren die einzigen Zeugen des Nationalsozialismus und des Terrors sein.
Dieser Übergang markiert gleichzeitig eine qualitative Veränderung des Erinnerten. Die erinnerten Ereignisse, aus dem individuellen Gedächtnis und der Bedeutung für ein individuelles Leben gelöst, werden in neue Zusammenhänge gestellt und neu interpretiert. Innerhalb der Erinnerungskultur der verschiedenen Länder erhalten sie neue Bedeutungen für den kulturellen und politischen Zusammenhang, in dem sie jeweils stehen.7 Die Art und Weise, in der Erinnerung an historische Ereignisse wachgehalten und präsentiert wird, trägt zur Identitätsbildung der Gruppe oder Nation bei, die Denkmäler oder Museen einrichtet.
Die in Deutschland in den letzten Jahren eher stärker gewordene öffentliche Erinnerung an den Holocaust ist Zeichen dafür, daß die deutsche Nachkriegsgesellschaft einen zentralen Aspekt der jüdischen Kultur und Identität: das Gebot der Erinnerung an die Opfer, übernommen hat. Im Verständnis der Thora beinhaltet die Erinnerung an das Geschehene jedoch gleichzeitig, die Erinnerung an die Feinde des jüdischen Volkes auszulöschen.8
Die Zwiespältigkeit des kollektiven Erinnerns in Deutschland besteht eben darin, die NS-Täter nicht einfach vergessen zu können. Denkmäler und Museen zum Nationalsozialismus dienen nicht nur der Erinnerung an die Opfer, sondern konfrontieren die Nachfahren der Täter und der ›ganz normalen Deutschen‹ mit den Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden
Ausstellungen zum Nationalsozialismus
Nun reproduzieren individuelle Erinnerung wie auch die Erinnerungskultur auf nationaler Ebene nicht einfach historische Realität, sondern sie nehmen eine Konstruktion der Vergangenheit aus Interessen und Perspektiven der Gegenwart heraus vor. Dies trifft auch auf Ausstellungen zum Nationalsozialismus bzw. auf solche zur Geschichte der NS-Konzentrationslager zu. Die Ausstellungsstücke, die innerhalb historischer Ausstellungen präsentiert werden, sind »Zeichenträger«9 (Pomian), die ihre Bedeutung durch den Bezug zueinander, zur Umgebung und zum Betrachter gewinnen. Auch Ausstellungsgegenstände sind Merkbilder, die einen bestimmten Blick auf ihre Geschichte und die beteiligten Menschen nahelegen. Ausstellungen wiederum stehen meist im Rahmen anderer materieller Repräsentationen des Nationalsozialismus: Denkmäler, Gedenkstätten und NS-Bauten. Die Ankunft der Objekte aus Konzentrationslagern und anderer Gegenstände der Zeit im Museum bezeugt die beginnende Historisierung. Erinnerungsstücke werden umfassend gesichert, weil sie nun als sammelnswert angesehen werden.
Die Diskussion konzentriert sich bisher vor allem darauf, wie sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Denkmälern, Gedenkstätten und baulichen Überresten des Nationalsozialismus präsentiert. Die Präsentationsweisen von Ausstellungen zum selben Thema wurde bisher nicht in gleichem Maße diskutiert.10 Findet eine Auseinandersetzung darüber statt, so konzentriert sie sich meist auf die Analyse der Ausstellungsobjekte im weiteren Sinne, d.h. also auf Dokumente, Gegenstände oder Fotografien. Besonders letztere sind eingehend untersucht worden, gerade in Hinsicht auf ihre vermeintliche Authentizität und die in den Aufnahmen verborgenen Sichtweisen.11 Beachtung gefunden hat auch die Kunst, die in den Lagern und durch Verfolgte des Nationalsozialismus entstand.12 Weniger intensiv war bisher die quellenkritische Betrachtung von Dokumenten in bezug auf ihre Verwendung in Ausstellungen zum Nationalsozialismus, obwohl Dokumente zum Nationalsozialismus schon seit langem in Archiven gesammelt werden. Vor allem trifft diese Feststellung aber auf Objekte im eigentlichen Sinne – Sachen, Dinge, Gegenstände – zu, deren Verwendung in Ausstellungen noch kaum thematisiert wurde.13 Am Beispiel einiger Objekte und serieller Listen aus der Ausstellung »Jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen« möchte ich zeigen, unter welchen Bedingungen sie entstanden und benutzt wurden, welche Bedeutung diese Objekte für ehemalige Häftlinge oder andere Besucher in einer Ausstellung zur Konzentrationslager-Geschichte annehmen können und in welchen örtlichen und zeitgeschichtlichen Bezügen eine solche Ausstellung steht.
Dinge aus dem Konzentrationslager
Von Dingen ist in Autobiographien vor allem jüdischer Überlebender selten die Rede. Wie wichtig sie jedoch sein konnten, zeigt die Erinnerung Roman Fristers, für den die Wiederbeschaffung der von einem Kapo gestohlenen Mütze zu einer Frage von Leben und Tod wird.14 Dinge erhalten ihre Bedeutung im Leben wie im Lager durch den Kontext, in dem sie verwendet werden, durch den Punkt im Leben, an dem sie erworben, verschenkt oder getauscht werden, durch Bedeutung, die sie für eine bestimmte Person gewinnen. Der Gebrauch von Sachen strukturiert Handlungszusammenhänge, ihr Besitz dient der sozialen Unterscheidung. Hinter den Sachen, zu denen man Zugang hat, steht der »Raum der Erfahrungen und Wünsche der Menschen«15 (Hauser) den die Dinge zu öffnen versprechen.
So ist es auch mit Objekten aus dem Konzentrationslager. Die Konzentrationslager waren eine Welt ohne Besitz, denn die wenigen Habseligkeiten, die die Häftlinge mitbrachten, wurden ihnen bei der Einlieferung abgenommen.16 Dinge hatten im Lager besonderen Wert eben durch ihre Seltenheit. Die dünne gestreifte Uniform, Holzschuhe und Eßgeschirr waren der einzige Besitz, der zulässig war. Die Häftlinge wurden der Dinge ebenso beraubt, wie sie durch Nummer, Demütigung und quasi-militärische Ordnung ihre Individualität vollkommen verlieren sollten. Die Folge dieser künstlichen Verknappung war, daß Gegenstände, die in irgendeiner Form nutzbar waren, einen ungeheuren Wert erhielten. Zementsäcke, versteckt unter der Jacke getragen, halfen gegen die Kälte. Wertgegenstände, die man bei bestechlichen SS-Männern oder anderen Gefangenen gegen Brot eintauschen konnte, sicherten das Überleben. Alle Dinge, die getauscht werden konnten und so Eingang in den steten Fluß von Waren fanden, der im Lager zirkulierte, konnten das Leben verlängern helfen. Wer sich nicht an diesem Austausch beteiligen konnte, weil er nichts besaß, rückte dem Tod näher. Wer durch seine Arbeit Kontakt zu Wachsoldaten oder gar Zivilisten hatte, wer zu einer der privilegierten Häftlingskategorien gehörte und deshalb Pakete empfangen durfte, hatte auch Zugang zu Lebensmitteln und anderen Dingen. Die sozialen Beziehungen im KZ wurden vor allem durch die psychische Vereinzelung der Häftlinge, die gleichzeitig mit der dauernden Nähe viel zu vieler, konkurrierender Mithäftlinge konfrontiert waren, eingeschränkt.17 Aber auch im Lager prägten Dinge die Handlungszusammenhänge und ihr Besitz gab Auskunft über ihre Besitzer, deren Status und ihre Überlebensstrategien.
Gegenstände, die im normalen Leben kaum einen Wert hatten, werden im Lager wertvoll. In der Ausstellung zur Konzentrationslager-Geschichte erhalten diese Gegenstände zweifache Bedeutung: durch den Gebrauch im Lager und dadurch, daß sie das Leben eines Häftlings illustrieren. In ihrer primitiven Materialität symbolisieren sie die Armut der Häftlingsgesellschaft und die Entblößung der Insassen. Von den wenigen Dingen im Besitz der Gefangenen haben sich noch weniger erhalten. Gelang es dem Häftling, im ersten Lager noch etwas zu behalten, so ging es sicher bei den wiederholten Transporten in andere Lager verloren. Sachen aus dem KZ werden daher in Ausstellungen fast automatisch zu seltenen Fundstücken oder Reliquien.18 Die Präsentation in Vitrinen unterstützt diese Wirkung. Die Stücke machen die unerreichbaren Ereignisse für uns scheinbar sinnlich erfahrbar, ermöglichen den »Sprung durch die Zeit«19 denn sie sind ›dabeigewesen‹.
Magda Fodor, mit ihrer Schwester 1944 aus Ungarn nach Auschwitz deportiert und von dort in ein Berliner Außenlager des KZ Sachsenhausen gebracht, konnte ihre orthopädischen Einlagen durch die verschiedenen Lager retten. Die Einlagen, die sich assoziativ mit Schuhen und Füßen verbinden lassen20, stehen nicht nur für den Weg durch die Lager, sondern symbolisieren auch das Leben, das sie retten halfen. Ohne diese Einlagen, so die Besitzerin selbst, hätte sie die Märsche nie überlebt. Die beiden Lederstücke, beschädigt und mit ungarischer Aufschrift, können sogar für die noch 1944 deportierten 400.000 ungarischen Juden stehen oder für das Schicksal der zwei Schwestern, die sich gemeinsam retten konnten. Die Einlagen symbolisieren – im Gegensatz zu der Masse abgeschnittener Haare oder zu den Brillenbergen aus Auschwitz – nicht die Toten des Vernichtungslagers21, sondern das Überleben der Besitzerin auf dem Weg vom Ghetto in Ungarn, über Auschwitz nach Berlin.
Der Werkzeugkoffer von Karel Karlovsky, eigentlich ein einfacher Holzkasten, diente ihm als Behälter für das – im Lager – wertvolle Werkzeug. Gleichzeitig wies der Koffer ihn als privilegierten ›Experten‹, als Lagerelektriker des Außenlagers Schwarzheide aus, dessen Arbeits- und Überlebensbedingungen besser waren als die vieler anderer. Als Handwerker konnte er sich auch außerhalb des Lagers bewegen und dort Lebensmittel eintauschen, die er im doppelten Boden des Kastens zurück ins Lager schmuggelte. Einfache, unscheinbare Dinge wurden im Lager zur Überlebenshilfe. Dem Betrachter in der Ausstellung erschließt sich diese Bedeutung erst durch den erklärenden Text, die Hörstation mit Auszügen aus einem Interview mit Karlovsky und ergänzende Informationen – hier Zeichnungen des Außenlagers von Alfred Kantor. Das Objekt in der Vitrine wird durch die museale Präsentation zwar zum Einzelstück, das Aufmerksamkeit erregt, diese Präsentation nimmt es aber aus den historischen Zusammenhängen heraus und bedarf daher der Erläuterung.
Andere Gegenstände dokumentieren das Leben und das Selbstverständnis einzelner, identifizierbarer Häftlinge vor und nach ihrer Zeit im Konzentrationslager. Sie zeigen, daß die Personen das Lager überlebt haben. Die Gewöhnlichkeit der Erinnerungsgegenstände läßt den Bruch, der durch die Lagerhaft in den Lebensläufen entsteht, ebenso wie die Einzigartigkeit dieser Erfahrung um so deutlicher hervortreten. Diese Normalität unterstreicht aber auch, daß die Häftlinge ›ganz normale Menschen‹ waren. Den jüdischen Häftlingen gelang es – anders als den politisch Verfolgten – kaum, Gegenstände aus ihrem Leben vor der Verhaftung zu bewahren. Die Ermordung der ganzen Familie oder die erzwungene Emigration ließen dies nicht zu. Die Sabbatleuchter seiner Mutter bewahrte der sozialdemokratische Politiker jüdischer Herkunft Ernst Heilmann als familiäre Erinnerungsstücke. Wie bei anderen assimilierten Juden waren sie weniger als religiöse Gegenstände denn als Ausdruck für »Familiensinn, Besitz und Kunstverstand«22 von Bedeutung. Die gemeinsame Präsentation der Leuchter und der goldenen Taschenuhr – in der die Haarlocke des Sohnes steckt – in einer Biographievitrine verweist auf diesen Zusammenhang. Das nationalsozialistische Propagandaplakat im Hintergrund hingegen nennt Heilmann als einen von »33 Rassejuden«, die nationalsozialistische Bezeichnung für Deutsche jüdischer Abstammung. Das Plakat sollte Reichstagsabgeordnete von SPD, KPD und DDP wegen ihrer – angeblichen oder wirklichen – jüdischen Herkunft diffamieren. In der Propaganda der Nationalsozialisten verschwammen ›Marxismus‹, ›Bolschewismus‹ und Judentum zu einem einheitlichen Feindbild, das sich auch in der Kategorie des Konzentrationslagers für ›politische Juden‹, dem gelb-roten Winkel in Form eines Davidsternes niederschlug. So thematisiert die Ausstellung die Problematik jüdischer Deutscher, die von den Nationalsozialisten erst zu »Rassejuden« gemacht wurden. Heilmann verstand sich zuallererst als Sozialdemokrat, nicht als Jude. Leuchter, Taschenuhr und Plakat sind in ihrer Aussage nicht eindeutig. Auch hier unterstreicht erst der begleitende Text die Differenz zwischen Heilmanns Selbstverständnis, das das vieler deutscher Juden vor 1933 war, und der Zuschreibung, die die nationalsozialistische Rassentheorie vornahm.23
Objekte aus dem Konzentrationslager haben – vor allem für den Besitzer – existentielle Bedeutung, denn sie stehen für das Überleben in einer nicht-lebbaren Welt, für die Bewahrung von Individualität in einer Umgebung, die nicht nur allen Besitz raubte, sondern auch alle persönlichen Eigenschaften zerstörte. Etwas von dieser vor allem emotionalen Bedeutung24, die den Dingen aus dem Lager, aber auch aus dem Leben davor und danach anhängt, vermittelt sich durch ihre Materialität und durch die Präsentation im Rahmen der Biographie auch dem Ausstellungsbesucher.
Listen als Instrumente des Terrors und der Macht
Im Gegensatz zur Seltenheit und zum persönlichen Charakter der Dinge aus dem Lager steht die Massenhaftigkeit serieller Einlieferungs-, Veränderungs-, Entlassungs-, Transport- und Totenlisten aus dem Konzentrationslager. Der Eindruck dokumentarischer Vollständigkeit trügt jedoch, denn die Überlieferung für das KZ Sachsenhausen ist hier wie bei den Gegenständen lückenhaft. Die Suche nach Quellen zur Konzentrationslager-Geschichte gleicht immer einem Puzzlespiel, und die Präsentation in der Ausstellung trifft eine erneute Auswahl aus Objekten, die Zeit und Sammlungsumstände schon dezimiert haben.25
Serielle Listen sind von anderen Dokumenten der SS oder der Gestapo, von Häftlingsakten, Entlassungs- oder Totenscheinen, nur formal zu unterscheiden. In allen diesen Dokumenten materialisierte sich der Terror des Staatsapparates, sie waren die ›Buchhaltung‹ der Täter. In ihrer Ordnung spiegelte sich die Ordnung des Konzentrationslager-Systems.26 Serielle Listen waren ein Instrument der Lager-SS, sie dienten der Verwaltung großer Menschenmengen, ihrer Verschiebung und ihrer Beherrschung. Als Instrumente der Logistik reduzierten sie die Häftlinge auf wenige Kennzeichen: Namen, Nummer und Häftlingskategorie. Diese Kategorien definierten die Stellung jedes einzelnen Häftlings in der Lagerhierarchie und damit auch die ›Behandlung‹, die er zu erwarten hatte.
Mit den Listen verband sich ein ganzes Universum von Ritualen, Handlungsweisen und existentiellen Entscheidungen, an denen SS-Soldaten, Häftlinge, manchmal aber auch Zivilisten außerhalb des Lagers beteiligt waren. Die Einlieferung mit Demütigungen und Schlägen, der Einstufung in eine der Kategorien, die wiederum über die Überlebenschancen des neuen Häftlings entschied. Der Transport, auf den man geschickt wurde, und durch den man dem Tod entging oder entgegenging. Die Einlieferung in den ›Krankenbau‹ oder der Tod im Lager. Alle diese Ereignisse wurden durch im Lager erstellte Listen dokumentiert und die Situationen, in denen die Häftlingsschreiber die Namen notierten, waren entscheidend für die ›Lagerkarriere‹ der Häftlinge.27
Über das Erleben der Häftlinge in diesen Momenten sagen die Listen nichts. Man kann nur anhand der Schilderungen der Überlebenden vermuten, was sie fühlten. Die auf den Listen aufgeführten Menschen waren dabei, wenn die Angaben von Häftlingsschreibern aufgenommen wurden, sie spürten die Folgen der minutiösen Registrierungspraxis bei den endlosen Appellen, in denen sie immer und immer wieder gezählt wurden, bis die tägliche ›Veränderungsmeldung‹ erstellt war. Serielle Listen geben nur eine bestimmte Perspektive auf die Häftlinge frei, die durch ihren ›Verwaltungszweck‹ bestimmt ist.28 In Einzelfällen wurden die Listen auch einfach gefälscht, denn einigen Häftlingen gelang es mithilfe von Beziehungen zu den ›Funktionshäftlingen‹, die die Listen führten, die Identität eines Toten oder eine andere Kategorie anzunehmen, um das eigene Leben zu retten. Jüdische Häftlinge waren hier in besonderer Weise vom Wohlwollen der Mithäftlinge anderer Kategorien abhängig, denn sie durften nicht als Funktionshäftlinge eingesetzt werden.
Alle diese Ereignisse bilden serielle Listen in der Ausstellung aber nur begrenzt ab. Ihre Bedeutung wird reduziert und fast immer auf Ausstellungszwecke ausgerichtet. Oft läßt sich die Zeit eines Häftlings im Lager, mangels anderer Dokumente, nur durch seinen Namen auf einer Liste belegen. Die Listen in der Ausstellung markieren wichtige Einschnitte in der Chronologie des Lagers und einzelner Häftlingsgruppen. Die Veränderungsmeldungen vom 20.10. und 27.11.1938 zeigen den Anstieg der Häftlingszahl durch das Novemberpogrom am 9.11.1938 um ca. 6.000 jüdische Menschen. Eine Liste vom 23.11.1938 enthält Namen von jüdischen Häftlingen, die entlassen wurden, weil sie die Auswanderung betrieben oder ihr Eigentum dem Deutschen Reich überschrieben hatten. Die Transportliste mit den Nummern fast aller jüdischen Häftlinge aus Sachsenhausen steht für die Massenvernichtung, die sich ab 1941 in den Konzentrationslagern im besetzten Polen vollzog.
Innerhalb des chronologischen Ausstellungskonzeptes markieren bewegliche Tafeln aus Plexiglas, die im rechten Winkel auf die Ausstellungstafeln montiert sind, wesentliche Häftlingstransporte, die auf Listen dokumentiert sind. Die großen Transporte aus Auschwitz zurück ins Reichsgebiet Ende 1944 in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück stehen für die Rettung vieler jüdischer Häftlinge, durch deren Arbeitskraft die Nationalsozialisten den Krieg noch zu gewinnen hofften. Die Abschrift der Transportliste für die 137 Häftlinge des ›Fälscherkommandos‹, die noch im Februar 1945 in ein Außenlager des KZ Mauthausen gebracht wurden, ist die einzige vollständige Liste eines Arbeitskommandos im Lager Sachsenhausen. Zugleich dokumentiert sie eine Gruppe jüdischer Häftlinge, die der Vernichtung dadurch entging, daß sie für die SS englische Banknoten fälschen mußte. Alle diese Listen belegen zugleich, wie lückenhaft und zufällig die Überlieferung von Dokumenten zur Geschichte des Lagers ist. Oft sind die seriellen Listen die einzigen Zeugnisse für Ereignisse im Lager. Bei den ›Zugangslisten‹ für die direkt nach dem Novemberpogrom Verhafteten ist es umgekehrt: sie sind bisher nicht aufgefunden worden.
Eine andere Art von Zugriff auf die Häftlinge belegen Listen, die Häftlinge selbst oder Menschen außerhalb der Lager führten. Die Transportliste der aus Sachsenhausen nach Auschwitz gebrachten Juden erstellten Funktionshäftlinge des Vernichtungslagers heimlich. Ebenfalls heimlich schrieb Recha Freier, eine Mitarbeiterin der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die Liste der verstorbenen polnischen Juden. Die Namen der Toten wurden der Zentrale der Reichsvereinigung in Berlin mitgeteilt, damit sie die Angehörigen benachrichtigte. Recha Freier gelang es, die Liste bei ihrer Auswanderung nach Palästina mitzunehmen und so den Mord an 178 polnischen Juden zu dokumentieren. Beide Listen ermöglichten es, die Morde der Nationalsozialisten festzuhalten, obwohl diese es zu verhindern suchten. Vorgänge in den Konzentrationslagern sollten nicht an die Öffentlichkeit dringen und am Kriegsende versuchte die Lager-SS, alle Akten zu vernichten. Der nationalsozialistische Terror konnte so dokumentiert und die Erinnerung an einzelne Opfer erhalten werden.
Dieselbe Funktion haben auch die Listen, die in der Ausstellung an weniger hervorgehobener Stelle stehen. Sie belegen die ›Stationen‹ einzelner Häftlinge im Lager, im Fall des Synagogendieners Moses Rosenblüth aus Berlin die Einlieferung in den Krankenbau 1941 und die Erschießung durch die SS im Mai 1942 als ›Vergeltung‹ für einen Anschlag auf die antisowjetische Propagandaausstellung »Das Sowjetparadies«. Hier dienen die Listen nicht dem unpersönlichen, massenhaften Zugriff, sondern erfüllen gerade die entgegengesetzte Funktion. Die Erinnerung an eine individuelle Person, von der – hätte sich die Absicht der SS erfüllt – keine Spur geblieben wäre.
Obwohl Listen unter dem Gesichtspunkt der Ausstellungsgestaltung eher uninteressant erscheinen, sind sie aussagekräftig, weil sie die Haltung der Täter, ihre Wahrnehmung der Opfer und die Funktionsweise des Lagers illustrieren. Die in ihnen registrierten Einlieferungen, Entlassungen, Transporte und Tötungen – so kann der Besucher erkennen – haben wirklich stattgefunden. Angehörige ehemaliger Häftlinge können die Namen ihrer Verwandten in ihnen suchen und wiederfinden. Dem Betrachter vermittelt sich in erster Linie die Massenhaftigkeit der Transporte, die mit ihnen verbundenen chronologischen Einschnitte und die Erinnerung an einzelne Personen. Zugleich symbolisieren serielle Listen den massenhaften und mitleidlosen Zugriff auf die Menschen, die Maschinenhaftigkeit dieses Zugriffs und die Entpersonalisierung der Opfer durch die SS.
Während serielle Listen für die SS ein Herrschaftsinstrument waren und für den Besucher Merkbilder darstellen, besteht deren Bedeutung für den Häftling im Zugriff auf sein Leben. Die Listen, die seine Biographie so entscheidend beeinflußten, werden für den Überlebenden meist erst nach 1945 sichtbar. Sie ermöglichen ihm die Rekonstruktion seiner ›Lagerkarriere‹. Der Verlauf dieser ›Karriere‹ entspricht seiner eigenen Erinnerung allerdings kaum, denn er erlebte sie als Herumgestoßener, der oft nicht wußte in welchem Lager in Polen oder Deutschland er sich gerade befand. Die Listen geben ihm die gegliederte Zeit wieder, die in der Haftzeit endlos, ungegliedert war. Die Liste gibt ihm zudem die Gewißheit, daß die Zeit im Lager nicht nur seiner Einbildung entsprungen ist. Sie objektiviert seine persönliche Erinnerung und verschafft ihm gesellschaftliche Anerkennung.29 So erfüllen serielle Listen aus dem Konzentrationslager heute eine diametral entgegengesetzte Funktion zu der, die ihnen zugedacht war.
Ausstellungen im Konzentrationslager: Bezüge und Funktionen
Unmittelbaren Bezug hat die Ausstellung über »Jüdische Häftlinge im KZ Sachsenhausen« zu dem Gebäude, in dem sie steht und zur Gedenkstätte selbst.30 Die Folgen des Brandanschlages auf die ›Jüdischen Baracken‹ im Jahr 1992, die in die Ausstellung integriert wurden, sind sinnlich wahrnehmbar. Die Gebäude sind daher selbst Ausstellungsstücke für die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und dessen Fortdauer in der Gegenwart. Weniger offensichtlich ist der Bezug zur Ausstellung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR von 1961 zum »Widerstandskampf und Leiden des jüdischen Volkes« am selben Ort.31 Der Schwerpunkt dieser Ausstellung lag auf dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Informationen zu einzelnen Personen oder Ereignissen im Konzentrationslager Sachsenhausen enthielt sie kaum.32 Die neue Ausstellung konzentriert sich im Gegensatz dazu gerade auf die Ereignisse im Lager und auf die Biographien einzelner Personen. Sie versucht vor allem, die Häftlinge als Menschen, nicht nur als Opfer darzustellen. Sie wendet sich dadurch gegen Erniedrigung oder Instrumentalisierung der ehemaligen Häftlinge33, unterstützt aber auch die Integration des persönlichen Opfergedächtnisses in die kollektive Erinnerung in Deutschland. Private Dinge wandeln sich in ihr zu musealen, erklärungsbedürftigen Erinnerungsobjekten, und die Instrumente der SS werden darin zu Zeugen ihres Terrors. Die Dauerausstellung vollzieht den paradoxen Schritt, gerade jene Menschen und ihre Emotionen ins nationale kollektive Erinnern zu integrieren, die die Nationalsozialisten ausgeschlossen sehen wollten.
Der Bezug der Ausstellung zu einigen der Denkmäler der ›Nationalen Mahn- und Gedenkstätte‹, dem Obelisken mit den roten Winkeln, der Statuengruppe zweier Häftlinge mit ihrem sowjetischen Befreier, aber auch zum hochragenden Betondach über den Resten der Hinrichtungsstätte ›Station Z‹ gleicht dem zur ehemaligen Ausstellung in den ›Jüdischen Baracken‹. Auch die Denkmalsgestaltung der DDR stützte die Deutung, der Widerstand der ›roten‹, kommunistischen Häftlinge sei das zentrale Ereignis der Lagergeschichte und gleichzeitig Vorgeschichte des sozialistischen Staates gewesen. Die Geschichte des KZ Sachsenhausen wurde durch diese Interpretation zugunsten einer eindeutigen Aussage entdifferenziert, das gesamte Lagergelände mit einer Erdschicht für die Anlage eines Parks bedeckt. Wie die eingleisige Interpretation der Lagergeschichte eine weitere intensive Beschäftigung mit dem Schicksal anderer als der politischen Häftlinge verhinderte, so dokumentierte die Parkanlage auch das nicht mehr vorhandene Interesse an den originalen Überresten auf dem Gelände.
Die parkartige Gestaltung des Lagergeländes, die Steine mit den Nummern der ehemaligen Häftlingsbaracken und die halbrunde Mauer am Appellplatz mit den kreuzförmigen Durchlässen verweist hingegen auf den Friedhofscharakter, der für KZ-Gedenkstätten typisch ist. Der Aspekt des Totengedenkens in KZ-Gedenkstätten, der Umgang mit dem gewaltsamen Tod zehntausender, deren Asche zum Teil noch im Boden zu finden ist, unterscheidet die Ausstellung am authentischen Ort des Konzentrationslagers von jeder anderen Museumsausstellung. Ausstellungen zur Zeitgeschichte, Industriemuseen, Freilichtmuseen: sie alle stehen an historisch bedeutsamen oder authentischen Orten, haben ihren Platz in historischen Gebäuden und verwenden biographiebezogene oder alltägliche Gegenstände als Ausstellungsobjekte. Der Aspekt des massenhaften Mordens hingegen begegnet dem Besucher allein am Ort des ehemaligen KZ. Die Verbindung mit Gewalt und Sterben macht die Biographien der Häftlinge, macht die Objekte und Listen in der Ausstellung zu etwas Besonderem. Der Tod, der mit dem Ort der Gedenkstätte verbunden ist, läßt sich hier trotz späterer Umformungen durch den Abriß der originalen und den Bau neuer Denkmäler und Gebäude wahrnehmen. KZ-Gedenkstätten sind besonders ›problematische‹ Orte für das kollektive Gedächtnis in Deutschland, denn sie bieten in der Erinnerung an den Nationalsozialismus eben keine positive, sondern nur eine negative Identität.
Das Paradoxon der Ausstellung, an Menschen zu erinnern, die von Deutschen ermordet worden sind oder beinahe getötet worden wären, wiederholt das generelle Problem, das die kollektive Erinnerung des Nationalsozialismus in Deutschland kennzeichnet: Die Aufgabe, den nationalsozialistischen Terror in das eigene nationale Selbstbild integrieren zu müssen. Das Wissen um den Nationalsozialismus und seine Verbrechen beeinflußt, ob nun bewußt oder unbewußt, das Vorverständnis aller deutschen Ausstellungsbesucher.34 Dieses Vorverständnis tritt sozusagen als dritte Interpretationsebene neben die Interpretationen der Konzentrationslager-Geschichte, die Ausstellung und Denkmäler auf dem Gedenkstättengelände bieten. Dieses Vorverständnis ist nicht einheitlich. Während ehemalige Häftlinge und deren Angehörige die Gedenkstätte als Ort der Trauer und Bestätigung der eigenen Identität empfinden, ist sie für die Nachfahren der ›Nicht-Opfer‹ der Ort empathischen Einfühlens in das Schicksal der Opfer, vielleicht auch kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, deren Auswirkungen über die Familien in fast jede individuelle Biographie hineinreicht.35 Die Verwandlung von Geschichte zu institutionalisierter Erinnerung, die die Ausstellung über ›Jüdische Häftlinge im KZ Sachsenhausen‹ vollzieht, impliziert die Anerkennung des Geschehenen und der Opferperspektive. Vielleicht liegt die Funktion von Ausstellungen an Erinnerungsorten und von Merkbildern des Nationalsozialismus für die deutschen Besucher wirklich in ihrem – wie Aleida Assmann schreibt – therapeutischen Wert.36 Denn die Erinnerung und die damit verbundene Schuld der Eltern oder Großeltern zu entfalten heißt, sie zu bannen, und sie – als Schuldgefühl, das in den Enkeln weiterwirkt - aufzuheben.37
Anmerkungen:
1 Grütter, Heinrich Theodor: Die Präsentation der Vergangenheit. Zur Darstellung von Geschichte in historischen Museen und Ausstellungen, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 173–187, hier S. 184.
2 Haverkamp, Anselm: Hermeneutischer Prospekt, in: Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. IX-XVI, hier S. X f.; Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Assmann, Aleida/ Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/M. 1991, S. 289–304, hier S. 293.
3 Assmann, Aleida: Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in: Loewy, Hanno/Moltmann, Bernd (Hg.), Erlebnis-Gedächtnis-Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt/M. 1996, S. 13–29, hier S. 13, S. 16 f.; Dies., Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Assmann/Harth (wie Anm.2), S. 13–35, hier S. 26 f.
4 Die Veränderung der Sichtweise auf den Nationalsozialismus und seine Beziehung zu anderen historischen Ereignissen durch die zunehmende zeitliche Distanz halte ich für ›natürlich‹. Ein automatischer Verlust jedes moralischen Urteils, wie Saul Friedländer ihn befürchtet hat, scheint mir damit aber nicht zwingend einherzugehen. Vgl. Broszat, Martin/ Friedländer, Saul: Um die »Historisierung des Nationalsozialismus«. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, 36. Jg., 1988, München, S. 339–372, hier S. 369.
5 Zur Diskussion um Gedenkstätten als zeitgeschichtliche Museen vgl. Hötte, Herbert: Beobachtungen zum Umgang mit der unangenehmen Geschichte am Beispiel einer KZ-Gedenkstätte, in: Groppe, Hans-Herrmann/ Jürgensen, Frank (Hg.): Gegenstände der Fremdheit. Museale Grenzgänge, Marburg 1989, S. 112–117, S. 113, S. 116; Morsch, Günter: Überlegungen zur Ausstellungskonzeption in der Gedenkstätte Sachsenhausen, in: Faulenbach, Bernd/ Jelich, Franz-Josef (Hg.): Reaktionäre Modernität und Völkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten, Essen 1994, S. 89–97, hier S. 91.
6 Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S. 9.
7 Vgl. z.B. Kaube, Jürgen: Im Erlebnispark steigt man immer in denselben Fluß. Die Inflation der Erinnerung und das Problem des Zuschauers: Eine Wiener Tagung über »Historische Gedächtnisse«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe 1. April 1998, S. 43; Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/M. 1992, S. 266–295; Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend, 6. Aufl. 1997, S. 78.
8 Vgl. Niethammer, Lutz: Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen im kollektiven Gedächtnis, in: Loewy, Hanno (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 21–34, S. 33; Brocke, Edna: Im Tode sind alle gleich – Sind im Tode alle gleich?, in: Loewy, Holocaust, S. 71–82, hier S. 72, S. 81; Reichel, (wie Anm. 6), S. 21.
9 Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 79 f., S. 86.
10 Zu Denkmälern und baulichen Überresten vgl. Hoffmann, Detlef (Hg.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995, Frankfurt/M. 1998. Zu Ausstellungen vgl. die Beiträge in: Faulenbach/Jelich (wie Anm.5); vgl. darin: Morsch, Günter: Überlegungen zur Ausstellungskonzeption in der Gedenkstätte Sachsenhausen, S.89-97; Brink, Cornelia: Je näher man es anschaut, desto ferner blickt es zurück. Ausstellungen in KZ-Gedenkstätten, in: Ehmann, Annegret u.a. (Hg.): Praxis der Gedenkstättenpädagogik, Opladen 1995, S. 35–74; Dies.: Visualisierte Geschichte. Zu Ausstellungen an Orten nationalsozialistischer Konzentrationslager, in: Bönisch-Brednich, B./Brednich, W./Gerndt, H.: Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989, Göttingen 1991, S. 581–588; Kuhls, Heike: Erinnern lernen? Pädagogische Arbeit in Gedenkstätten, Münster 1996.
Zur Analyse historischer Ausstellungen vgl. die Artikel von Susanne zur Nieden zu den musealen Gestaltungen der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen aus dem Jahr 1961, in: Morsch, Günter (Hg.): Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 1996, S.253ff.; Marcuse, Harold: Die museale Darstellung des Holocaust an den Orten ehemaliger Konzentrationslager in der Bundesrepublik, in: Moltmann, Bernd u.a. (Hg.): Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost, 1993, S. 79–97.
11 Vgl. Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Treml, Manfred: »Schreckensbilder« – Überlegungen zur historischen Bildkunde. Die Präsentation von Bildern an Gedächtnisorten des Terrors, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 48, Nr. 5/6, 1997, S. 279–294; Milton, Sybil: Argument oder Illustration. Die Bedeutung von Fotodokumenten als Quelle, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg.8, Heft 28, 1988, S. 86–90 und die Bibliographie von Wrocklage, Ute: Fotografie und Holocaust. Annotierte Bibliographie, Frankfurt/M. 1998.
12 Milton, Sybil: Kunst als historisches Quellenmaterial in Gedenkstätten und Museen, in: Brebeck, Wulff E. (Hg.), Über-Lebens-Mittel. Kunst aus Konzentrationslagern und in Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus, Marburg 1992, S. 44–63; Lutz, Thomas: Einleitung, in: Brebeck, Über-Lebens-Mittel, S.7-11; Bilsky, Emily D.: Art during the Holocaust, in: Hoffmann, Detlef (Hg.), Kunst und Holocaust. Bildliche Zeugen vom Ende der westlichen Kultur, Loccumer Protokolle 14/1989, Rehberg-Loccum 1990, S. 29–72; Zimmermann, Michael: Erzählte Erinnerung und überlieferte Bilder, in: Hoffmann, Kunst, S. 12–28.
13 Hauser, Andrea: Dinge des Alltags. Studien zur historischen Sachkultur eines schwäbischen Dorfes, Tübingen 1994, S. 19, verweist auf die geringe Trennschärfe dieser Begriffe, die alle für die Bezeichnung dreidimensionaler Gegenstände verwendet werden. Hinweise zu Dingen in Ausstellungen zum Nationalsozialismus in Becker, Franziska: Dinge als heimliche Erinnerungsträger, in: Bönisch-Brednich/Brednich/Gerndt, (wie Anm. 10), S. 295–303, S. 295; Morsch, Überlegungen, (wie Anm. 10), S. 89 ff.; Brink, Visualisierte, (wie Anm. 10), S. 64ff. Viele Anregungen zum Thema ›Dinge in Ausstellungen‹ verdanke ich dem ideenreichen Artikel von Offe, Sabine: Schaustück und Gedächtnis: Jüdisches im Museum, in: Fliedl, Gottfried (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens, Wien 1995, S. 27–45.
14 Frister, Roman: Die Mütze oder Der Preis des Lebens. Ein Lebensbericht, Berlin 1997. Vgl. Steinberg, Paul: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht, München/Wien 1998, S. 14, S. 45 f.; Klüger, (wie Anm. 7), S. 91, S. 112, S. 144.
15 Hauser, (wie Anm. 13), S. 14. Vgl. ebd., S. 11 ff.; Jeggle, Utz: Vom Umgang mit Sachen, in: Bausinger, Hermann/Köstlin,Konrad (Hg.), Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauchs, Regensburg 1983, S. 18 f.
16 Henneberg, Ilse (Hg.): »Vom Namen zur Nummer«. Einlieferungsritual in Konzentrationslagern, Bremen 1996, S. 27 ff., S. 37 ff.; Steinberg, (wie Anm. 14), S. 46 f.
17 Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1993, S. 179 ff. hat vor allem den Massencharakter der Lagergesellschaft unterstrichen, der kaum soziale Beziehungen zuließ. Realistischer ist es vielleicht, von einer Sozialität zu sprechen, die zwar auf weitgehender Vereinzelung und strenger Hierarchisierung beruhte, die jedoch auch persönliche Beziehungen zuließ, die nicht ausschließlich durch die Zwänge der Lagerstruktur bestimmt waren.
18 Brink, Je näher, (wie Anm. 10), S. 65 f.
19 Burke, (wie Anm. 2), S. 27. Vgl. Assmann, Erinnerungsorte, (wie Anm. 3), S. 21, S. 26; Grütter, (wie Anm. 1), S. 177; Brink, Je näher, (wie Anm. 10), S. 65.
20 Offe, (wie Anm. 13), S. 31.
21 Becker, (wie Anm. 13), S. 295 f.
22 Offe, (wie Anm. 13), S. 38.
23 Zu ›Text‹ in Ausstellungen vgl. Korff, Gottfried: Fragen an Jürgen Steen, in: Fliedl, (Anm. 13), S. 63–68, S.65.
24 Hauser, (wie Anm.13), S.24.
25 Vgl. z.B. Philipp, Grit: Personen, Ereignisse, Zusammenhänge. Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes »Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939 bis 1945« in: Jacobeit, Sigrid/Philipp, Grit (Hg.), Forschungsschwerpunkt Ravensbrück. Beiträge zur Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers, Berlin 1997, S.115-123, S.117ff.; Brink, Je näher, (wie Anm.10), S.57.
26 Hauser, (wie Anm. 13), S. 77 f. Zu den verschiedenen Schreibstuben im KZ und deren Aufgaben .vgl. generell Paczula, Tadeusz: Schreibstuben im KL Auschwitz, in: Sterbebücher von Auschwitz. Fragmente, hrsg. vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Bd. 1, München/New Providence/London/Paris 1995, S. 27–45.
27 Hauser, (wie Anm.13), S. 74, S. 78. Vgl. Shelley, Lore (Hg.): Schreiberinnen des Todes, Bielefeld 1992, S. 32, S. 35, S. 51 f., S. 81, S. 93.
28 Brink, Je näher, (wie Anm. 10), S. 62.
29 Noch heute wenden sich Häftlinge an die Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager, um Belege für ihre Haftzeit zu bekommen. In der Regel sind diese Belege Voraussetzung für materielle Entschädigung und immaterielle Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus.
30 Vgl. Morsch, Überlegungen, (wie Anm. 10), S. 93.
31 Zur Nieden, Susanne: Das Museum des Widerstandskampfes und der Leiden des jüdischen Volkes, in: Morsch, Erinnerung, (wie Anm. 10), S. 272 ff.
32 Ebd., S. 275.
33 Niethammer, Lutz: Diesseits des »Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Platt, K./Dabag, Mihran (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 25–50, hier S. 38, betont, daß erst die öffentliche Auseinandersetzung um ihr Schicksal es den Opfern ermöglichte, ihre Erinnerungen zu äußern. Die kulturelle Erinnerung diente als Schutzmantel gegen die durch die Verfolgung aufgezwungene Entwürdigung.
34 Vgl. Hötte, (wie Anm. 5), S. 114. Niethammer, (wie Anm. 33), S. 26, S. 32, spricht vom »Widerlager« der eigenen Erfahrung, die familiär oder kollektiv vermittelt ist.
35 Vgl. Schneider, Christian: Schuld als Generationenproblem, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 7.Jgg., August/September 1998, S. 28–40, hier S. 32 ff, S. 37 ff.
36 Hölscher, Lucian: Geschichte und Vergessen, in: Historische Zeitschrift, Bd. 249, 1989, S. 1–17, S. 10; Assmann, Erinnerungsorte, (wie Anm. 3), S. 21. Zu Gedenkstätten als Orten emotionaler Selbstbespiegelung der Besucher vgl. Klüger, (wie Anm. 7), S. 76.
37 Hölscher, Geschichte und Vergessen, (wie Anm. 36), S. 14; Hölscher, Lucian: Geschichte als .Erinnerungskultur, in: Platt/Dabag, (wie Anm. 33), S. 146–168; hier S. 163; Fliedl, Gottfried: Die Zivilisierten vor den Vitrinen, in: Groppe/Jürgensen, (wie Anm. 5), S. 22–41, hier S. 35.